Eine Japanerin in Florenz
Eltern. Eine Schar älterer Kinder aus der Realschule an der Piazza Pitti kam auf ihn zu. Wahrscheinlich waren seine beiden schon zu Hause.
Nun ja, Giovanni vielleicht, aber Totò bestimmt noch nicht, denn als er den großen Vorplatz erreichte, sah der Maresciallo seinen Sohn, der nicht die Straße zum Palazzo Pitti überquerte, sondern ihm mit leuchtendem Gesicht entgegenstürmte. »Wo hast du bloß gesteckt?«
Verblüfft blieb Guarnaccia stehen. Totò war seit geraumer Zeit schwierig, aber der Anblick seines Sohnes, der auf ihn zugestürmt kam wie ein kleiner Junge, der von seinem Vater aufgefangen und im Kreise herumgeschwungen werden wollte …
Lächelnd hatte er fast schon die Arme für ihn geöffnet. Doch Totò stürmte geradewegs an ihm vorbei, nahm ihn gar nicht wahr. Stirnrunzelnd drehte sich der Maresciallo um und sah, wie Totò seine Hände auf die Schultern eines schlanken, blonden Mädchens legte. Voll eifrigen Ernstes redete er auf sie ein, und sie hörte ihm zu, mit gesenktem Kopf. Die langen, blonden Locken reichten hinunter bis zu ihrer Hüfte, als sei sie gerade einem Gemälde von Botticelli entsprungen. Die Arme hielt sie steif an der Seite, die Finger fanden Halt in den überlangen Armen eines schwarzen T-Shirts. Der Maresciallo wandte sich ab und ging allein nach Hause.
Am Nachmittag war der Warteraum auf der Wache voll, aber ein Blick in die teilweise besorgten, teilweise auf Hilfe hoffenden Gesichter sagte dem Maresciallo, daß Lorenzini mit den Anliegen der Wartenden schon zurechtkommen würde. Freundlich grüßend durchquerte er den Raum und zog sich mit den Sachen aus der Wohnung des japanischen Mädchens in sein Büro zurück.
Als er sich hinter seinen Schreibtisch setzte und den Stoß zu sich heranzog, kreisten seine Gedanken noch immer um Totò. Er war nie einfach gewesen, erst recht nicht im Vergleich zu Giovanni. Dennoch bewunderte er die Intelligenz und die rasche Auffassungsgabe seines Sohnes. Und das mußte er ihm lassen, dieses Mädchen, Vegetarierin hin oder her, war wirklich hübsch. Totòs Platz am Tisch war wieder leer geblieben, aber Teresa hatte ihn nicht einmal mit einem warnenden Blick bremsen müssen. Er hatte sich freiwillig jeglichen Kommentars enthalten. Giovanni hatte ihnen erzählt, daß sich die Eltern des Mädchens trennen wollten und daß sie zum Ende des Schuljahres mit ihrer Mutter wieder nach Dänemark zurückkehren würde.
»Er sagt, daß er weglaufen will. Aber das tut er doch nicht wirklich, oder?«
»Natürlich nicht. Gib mir nach dem Essen dein T-Shirt. Du hast dich mit Tomatensauce bekleckert, und ich wollte sowieso gerade eine Maschine Buntes waschen. Möchte jemand noch eine Portion?«
Da lebte man in der Annahme, Kinder blieben ewig Kinder, und dann, ganz plötzlich, waren sie keine mehr. Ein hübsches Mädchen aus dem Ausland. Das japanische Mädchen war von zu Hause davongelaufen, und wohin hatte das geführt?
Sein Mitgefühl mit seinem Jüngsten war gewachsen, aber die Sorge um ihn gleichermaßen.
Kleine Kinder, kleine Sorgen …
Und wenn sie plötzlich keine Kinder mehr waren, sah die Welt ganz anders aus.
Sein Sohn war direkt an ihm vorbeigelaufen, hatte ihn überhaupt nicht wahrgenommen, und jetzt fühlte sich der Maresciallo so einsam, als hätten beide Söhne das Haus verlassen. Eines Tages würde es soweit sein.
»Zurück an die Arbeit!« rief er sich zur Ordnung und öffnete die Akte, die vor ihm auf dem Schreibtisch lag. Die lief bestimmt nicht davon!
Natürlich würde er sich zur Ruhe setzen müssen, wenn es soweit war …
Alles im Leben, was sicher und beständig wirkte, veränderte sich unterschwellig, ohne daß man es registrierte.
Als Lorenzinis Kopf in der Tür auftauchte, war der Maresciallo dankbar für die Unterbrechung.
»Sie haben Besuch.«
Beppe, der dienstälteste Gärtner. Sein vor Wichtigkeit leuchtendes Gesicht strahlte durch die Wedel einer riesigen Pflanze hindurch.
»Kommen Sie rein, kommen Sie rein. Was um Himmels willen ist denn das?«
»Eine Kentia-Palme. Ihr Boden wird nicht schmutzig werden. Ich habe einen Untersetzer mitgebracht. Wir haben heute eine Lieferung bekommen, und ich dachte, die würde sich hier drinnen gut machen. Ich stelle sie ans Fenster. Als mein Dankeschön, sozusagen.«
»Als Dankeschön?«
»Ach, Sie wissen doch, Ihr Wohnungstip für meine Enkelin. Das hat geklappt. Die beiden können am nächsten ersten einziehen. Sie dürfen sie nicht zu viel gießen. Aber eigentlich bin ich
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