Eine Katze hinter den Kulissen
es haben. Dirk Bogarde
fiel mir ein.
In dem kurzen Augenblick, den wir schweigend das Foto
betrachteten, änderte sich Betty Anns Laune. Ihr Gesichtsausdruck
verdüsterte sich. Offenbar hatte sie Peter Dobrynins Tod noch
nicht verkraftet.
»So viele Tänzer«, sagte sie.
»So viele große Tänzer. Manche waren technisch besser.
Aber Peter war einzigartig. Wer auch immer nach ihm eine bestimmte
Rolle tanzte, mußte sich an ihm messen lassen. Anders ging es
nicht. Und es war völlig bedeutungslos, wer der Choreograph war,
Petipa oder Balanchine oder Ashton oder ... Naja, Limon hat es
vielleicht geschafft, seine Anlagen besser herauszuarbeiten als
irgendein anderer ...«
Sie hielt mitten im Satz inne. »Es tut mir
leid. Ich plappere hier in einem fort. Sie sind nicht gekommen, um sich
meine Ansichten über Ballett anzuhören. Sie sind wegen der
armen Lucia hier.« Sie nahm eine Praline von einem Teller auf dem
Beistelltisch. »Bitte, fragen Sie, was immer Sie wollen.«
»Wann haben Sie Peter zum letzten Mal gesehen - vor der Beerdigung meine ich?«
»Na ja, das letzte Mal war keine sehr
erfreuliche Begegnung. Eine ziemlich unangenehme Situation. Ich hatte
über ein Jahr nichts von ihm gehört, und dann tauchte er
plötzlich hier auf. Das war ... ja, vor drei Jahren. Er kam
einfach hier vorbei, und ich glaube, er war betrunken oder stand unter
irgendwelchen anderen Drogen. Jedenfalls war er in einem
fürchterlichen Zustand. Er hat nicht mal geklingelt. Irgendwie
muß er ins Haus gelangt sein und hat dann einfach den Fahrstuhl
genommen. Zwischen zwei Stockwerken ist er dann steckengeblieben und
hat ein schreckliches Theater veranstaltet: auf alle Alarmknöpfe
gedrückt und gebrüllt. Einer meine Nachbarn hat
schließlich die Feuerwehr angerufen. Mein Gott, es war
grauenhaft. Peter hat einen der Feuerwehrmänner mit dem
Feuerlöscher angegriffen, der im Aufzug hängt. Ich
wußte nicht mal, wer der Verrückte war, bis ich seine Stimme
hörte. Ich kam gerade rechtzeitig die Treppe hinunter, um zu
sehen, wie die Polizisten ihn abführten. Er blutete. Und als er
mich sah, hat er irgendwas gebrüllt, daß ich für all
das verantwortlich sei. Ich weiß nicht, was er damit gemeint hat.
Er hat gesagt, ich hätte ihn zugrunde richten, ihn töten
wollen. Dann haben sie ihn mitgenommen.«
Aber das Absurdeste an der ganzen Geschichte war,
daß ich damals gerade meine Mutter zu Besuch hatte. Es war alles
so grotesk!«
»Haben Sie danach versucht, ihn zu finden?«
Meine Frage schien ihr unangenehm zu sein, als ob ich
ihre Loyalität zu dem Tänzer in Frage stellen, als ob ich
auch sie beschuldigen wolle.
Sie stand auf und ging näher ans Feuer.
»Natürlich hätte ich gerne
gewußt, wo er war. Aber was hätte ich denn tun sollen? Die
Polizei hatte ihn wieder freigelasssen. Ich habe versucht, ihn zu
finden. Viele haben das versucht. Ich habe sogar eine
Vermißtenanzeige erstattet. Aber die Nachforschungen wurden
eingestellt, als sich herausstellte, daß seine Mutter Postkarten
von ihm bekam. Die Behörden haben gesagt, daß er
offensichtlich nicht ›gefunden‹ werden wollte.
Und er war ja auch nicht wirklich vermißt.
Viele Leute sind ihm ab und zu über den Weg gelaufen. Manche
sagten, sie hätten ihn in der Nähe vom Columbus Circle
betteln sehen, andere, daß er manchmal in einer dieser Baracken
im Riverside Park übernachtete. Es war verrückt. Man
wußte nicht mehr, was man noch glauben sollte.«
Betty Ann schürte das knackende Feuer.
»Macht es Ihnen etwas aus«, fragte ich, »wenn ich Ihnen eine persönliche Frage stelle?«
»Was für eine Frage?«
»Hatten Sie ... Haben Sie jemals mit Dobrynin geschlafen?«
Betty Ann brach in Gelächter aus. Ich setzte mich gerade hin, verwundert und ein bißchen pikiert.
Sie kam zu mir herüber und legte mir
tröstend eine Hand auf den Arm. »O bitte, Sie dürfen
nicht denken, daß ich Sie auslache. Glauben Sie mir, so habe ich
das nicht gemeint. Ich mußte nur an einen Witz denken, den man
sich damals oft erzählt hat. Ich kann mich nicht mehr genau an die
Einzelheiten erinnern, aber der Gag hatte etwas mit dem technischen
Aspekt des Wortes ›schlafen‹ zu tun. Peter hatte ganze
Wagenladungen von Geliebten, aber wahrscheinlich haben nur sehr wenige
wirklich mit ihm geschlafen. Wie ich.«
Sie lächelte. »Es war unmöglich, mit Peter zusammen zu sein und keinen Sex
zu haben. Er war ein Satyr. Das Interessante daran war, daß die
Frauen, auch wenn sie wußten, daß sie nur
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