Eine Katze hinter den Kulissen
Nestleton.
Sieh mich einfach als einen neuen Catsitting-Auftrag. Ich bin eine
große, exotische, verkrüppelte ...«
»Mal sehen, Tony, mal sehen.«
Ich winkte ihm zum Abschied zu und stürmte aus der Tür.
Auch Melissa lebte in einem merkwürdigen
Ambiente, genau wie Louis Beasley. Ihre Wohnung war modern,
riesengroß und lichtdurchflutet, was einen merkwürdigen
Kontrast zu der an ein Mausoleum erinnernden Atmosphäre bildete.
Diese Wohnung war vollgestopft mit ganzen Wagenladungen von
Memorabilien: gerahmte Ballettphotos und alte Schuhe für den
Spitzentanz füllten Bücherregale; Skizzen, die Melissa
darstellten, signiert von verschiedenen Künstlern;
Erinnerungsalben und diverser Krimskrams, darunter eine grauenhafte
alte Lampe, deren Fuß ein verschlungenes Tanzpaar bildete. Diese
Wohnung war eine Art Museum.
Sie begrüßte mich huldvoll, mit stocksteif
durchgedrücktem Rücken. Ihr Ehemann, sagte sie, sei auf einer
Geschäftsreise. Sie führte mich durch die ganze Wohnung in
eine große, offene Küche, die blitzblank und eiskalt war.
Ich war erstaunt darüber, wie klein Melissa war.
Ich überragte sie um einiges. Warum erscheinen Ballerinen auf der
Bühne immer so viel größer, als sie in Wirklichkeit
sind? Vielleicht liegt es an ihren breiten Schultern, der Eleganz ihrer
Haltung. Melissas Schultern waren wirklich auffallend breit und wurden
von einem wundervoll muskulösen Hals gekrönt. Mein erster
Eindruck erwies sich als richtig: Sie trat zwar nicht mehr auf, aber
sie war immer noch wunderschön.
Ich wurde rot, als mir plötzlich klar wurde,
daß ich sie als eine Art Relikt betrachtete. In Wirklichkeit war
sie jünger als ich. Und ich bin mir sicher, daß ich
keineswegs begeistert wäre, wenn jemand ein Relikt in mir sehen
würde.
Aber wie ich ihr so gegenübersaß,
fühlte ich mich auch ein wenig erleichtert.
»Schuhlöffel« hatte Louis Beasley Dobrynins Frauen
genannt, aber diese Definition konnte nicht zutreffen. Es war
höchst unwahrscheinlich, daß Melissa Taniment jemals in
ihrem Leben irgend jemandes »Schuhlöffel« gewesen war.
Und ebenso unwahrscheinlich war, daß sie sich jemals von irgend
jemandem hatte erniedrigen lassen.
»Nun, Miss Nestleton«, begann sie in
zuvorkommendem Ton. »Was kann ich für Sie tun? Was
möchten Sie von mir wissen?«
Der Ausdruck, den Tony gebraucht hatte, »die
verlorenen Jahre unseres Helden«, schoß mir durch den Kopf.
Ich mußte mich zwingen, ihn nicht zu benutzen. »Ich
versuche herauszufinden, wie Peter Dobrynin seine letzten drei
Lebensjahre verbracht hat, vor ... vor seinem allzu frühen Tod.
Können Sie mir irgend etwas dazu sagen?«
Melissa faltete ihre Hände auf der Tischplatte und zögerte einen Moment, bevor sie antwortete.
»Ich kann Ihnen da nicht helfen«, sagte
sie schließlich. In ihrem Ton lag eine Spur, nur eine Spur dieses
gekünstelten Englisch, das man im Sprechunterricht lernt.
»Woher sollte ich das auch wissen?« erklärte sie
freundlich. »Wir hatten in den letzten Jahren völlig den
Kontakt verloren.«
»Ich verstehe. Es ist nur ... Ich dachte, er
wäre in dieser ganzen Zeit wenigstens einmal zu Ihnen gekommen, um
Sie um Hilfe zu bitten.« Jetzt war ich damit dran, die Vokale zu
dehnen und gläsern zu lächeln.
Melissa zeigte nicht die geringste Reaktion. Aber ich
bemerkte, daß sie immer wieder meinem Blick auswich. »Ja,
schon«, sagte sie endlich. »Ich habe Peter einmal gesehen.
Ich glaube, das war ungefähr vor drei Jahren.«
»In der Weihnachtszeit?«
Jetzt endlich begann ich, winzige Anzeichen der
Kälte zu registrieren, von der ich wußte, daß sie sie
ausstrahlen konnte.
»Ich glaube«, sagte sie und fuhr dann
fort. Sie sprach jetzt sehr bestimmt. »Peter hat mich um Geld
gebeten. Er war betrunken, unverschämt und total ausfallend. Mein
Mann mußte ihn mit Gewalt hinauswerfen.« Sie schaute jetzt
an mir vorbei. »Das ... ist ... alles.«
»Und er hat Sie niemals angerufen oder versucht, sich noch einmal mit Ihnen zu treffen?«
»Nein.«
Nun schaute Melissa mich wieder an, und ihr Blick war jetzt viel weicher, fast schmerzlich.
»Aber ich habe einmal versucht, ihn zu finden«, sagte sie.
»Wann war das?«
»Vor zwei Jahren ist Peters Mutter gestorben.
Sie lebte in Connecticut, in der Nähe von Hartford. Freunde der
Familie haben mich angerufen, weil sie dachten, ich könnte ihn
vielleicht ausfindig machen und ihn vom Tod seiner Mutter unterrichten.
Aber natürlich ist mir das nicht gelungen.«
»Wenn Sie
Weitere Kostenlose Bücher