Eine Liebe in Paris
später. Schönen Nachmittag noch euch allen.«
Camille zu folgen war einfacher, als ich gedacht hatte. In
Montparnasse
nahm sie die Linie Nummer vier, die immer voll besetzt war, und fuhr bis
Châtelet Les Halles
, wo sie ein Stockwerk tiefer ging, von wo aus die großen Vorstadtzüge, die RER, fuhren. Welche Linie wählte sie? Das Streckennetz war für mich so undurchsichtig wie die Strickmuster, die meine Handarbeitslehrerin mir in der Grundschule mit endloser Geduld immer wieder hingelegt hatte. Die Linie C fuhrnach Versailles, so viel verstand ich noch, aber Camille lief weiter, bis sie auf dem Bahnsteig der Linie A stehen blieb. Ich lehnte mich hinter einen Getränkeautomaten und beobachtete sie, als sie sich ihre Kopfhörer in die Ohren steckte und ihre große Tasche quer über Brust und Bauch schlang. Was hatte sie da bloß drin? Ihre Ballettkleider brauchten gewiss nicht so viel Platz. Ah, da fuhr der Zug ein. Camille sah auf und stieg zwischen vielen anderen Leuten in den Waggon, was mir die Gelegenheit gab, kurz vor dem Anfahren auch noch zuzuspringen. Gut, sie hatte mich nicht gesehen, denn sie hielt den Kopf mit der Baseballkappe und dem blonden Pferdeschwanz gesenkt und tippte auf der Tastatur ihres Handys. Schrieb sie an ihre geheime Verabredung? Gleich würde ich mehr über die perfekte Camille erfahren. Ich unterdrückte ein nervöses Kichern.
Am
Gare de Lyon
stieg Camille aus und suchte sich zielsicher ihren Weg durch das Gewirr der Gänge, die Massen von Leuten, von denen viele aus Eurodisney zurückkamen (was an den Mausohren auf ihren Köpfen leicht erkennbar war), und den Lärm der Lautsprecheransagen. Ich hatte Mühe, ihr zu folgen, so schnell ging sie, und ich sah, dass sie sich im Gehen ihre Sonnenbrille aufsetzte.
Dann waren wir beide unter freiem Himmel und an der frischen Luft. Möwen kreischten und Autos hupten. Ich blickte mich kurz um und bemerkte, dass dieses Paris hier ein sehr anderes war, verglichen mit
Montparnasse
, dem
Marais
, der
Opéra
und dem
Louvre
. Es war eine graue, hastende Stadt,in der die Menschen müde Gesichter hatten. Eine Mutter im Regenmantel und mit Kopftuch versuchte, ihre vier kleinen Kinder unter Kontrolle zu behalten, und ein Mann, der wohl aus der Karibik stammte, schien im Stehen einzuschlafen, während er in den Taschen seines Blaumannes nach seiner
Carte Orange
suchte. Das Paris, das ich bisher kennengelernt hatte, war nichts als ein Sahnehäubchen auf einem sehr großen Kuchen gewesen, von dem jedes Teil anders schmeckte, manche süß, manche salzig und manche auch sehr bitter.
Ich sah Camille die Straße an einer Ampel überqueren und vor einem riesigen grauen Gebäude kurz haltmachen. Was wollte sie dort? Mein Blick glitt an der Fassade nach oben und blieb an einem großen Schild über dem Eingang hängen, auf dem in weiß-blauer Schrift
Hôpital de la Salpetrière
geschrieben stand. Es war ein Krankenhaus! Camille stieß die breite Glastür auf und begrüßte den Pförtner. Er kannte sie offensichtlich, denn er begleitete sie einige Schritte und sperrte ihr dann eine Tür auf, auf der
Toilettes
stand. Ich lehnte mich an eine der steinernen Säulen neben dem Eingang und beobachtete, wie Camille hinter der Tür verschwand. Lange musste ich nicht warten, denn nach etwa zehn Minuten öffnete sich die Tür wieder. Aber wer herauskam, war nicht Camille, sondern – ein Clown. Er trug einen viel zu großen und mit bunten Rhomben gemusterten Anzug, braune Latschen und eine grün gelockte Perücke auf dem Kopf. Die Nase leuchtete rot in dem weiß geschminkten Gesicht und der Mund war zu einem großen, ständigen Lachen geöffnet. In der Hand hieltder Clown eine Tasche, die offen stand, und ich entdeckte darin bunte Bälle, Tücher und Kegel. Es war Camilles Tasche, wie ich bei genauem Hinsehen erkannte.
Der Pförtner sagte etwas zu dem Clown, der daraufhin lachte und graziös – für das massige Kostüm viel zu graziös! – eine Pirouette drehte. Ich schaute ein zweites Mal hin: Kein Zweifel, das war Camille! Sie verabschiedete sich von dem Pförtner und ging zum Aufzug, in dem sie bald darauf verschwand.
Ich war vollkommen verwirrt. Was machte sie in diesem Krankenhaus und weshalb verkleidete sie sich als Clown? Welchen Grund konnte es geben, dass sie die Ballettstunden bei Madame Sarakowa schwänzte und ihren Traum von der
Étoile
an der
Opéra
aufs Spiel setzte?
Über dem Schreibtisch des Portiers hing eine große alte Uhr, und ich beobachtete, wie
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