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Eine Messe für die Stadt Arras

Eine Messe für die Stadt Arras

Titel: Eine Messe für die Stadt Arras Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrzej Szczypiorski
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verweigerte. So also sahen sich die Bürger von Arras auf dem Grunde ihrer Existenz angelangt. Empörung und Lästerung griffen um sich, weil die Menschen zu dem Schluß gekommen waren, daß Gott selbst ihrer spotte. Vor hundert Jahren wären solche Stimmungen wohl nicht möglich gewesen. Damals war die Welt noch überaus fromm und den himmlischen Urteilssprüchen willfährig. Aber heute! Immer häufiger wird davon gesprochen, daß die Welt rund sei wie ein Apfel und auf einem Fleck stehe. Man sagt auch, daß der menschliche Körper eine Menge Ähnlichkeit mit dem eines Hundes, einer Katze und sogar mit dem Körper eines Schweines habe. Mannigfaltige Nachrichten erregen bis aufs äußerste die Gemüter, und Zweifel schleichen sich in so manch eine Seele ein. Die Welt durchlebt eine Wandlung, deren Grenzen fließend und nicht fixierbar sind. Wäre es vor hundert Jahren etwa vorstellbar gewesen, daß Menschen sich auf den Friedhöfen versammelten und sich merkwürdigen, frommen Ritualen, die den Tod preisen, hingaben? In den Zeiten unserer Vorfahren war der Tod der Tod, und niemanden setzte das augenscheinliche Faktum in Erstaunen, daß unsere Leiber verfaulen, dann austrocknen und schließlich zu Staub zerfallen. Bedenkt, daß heute die Menschen tief davon betroffen sind und angesichts des Todes Angst alle Christenherzen erfüllt. Ein Zweifeln liegt darin, eine Unschlüssigkeit, so als hätte unser Hirn den Gedanken geboren, daß mit dem letzten Atemhauch alles zu Ende sei, daß wir sterbend ins Nichts, in die Finsternis, ins Nichtsein eingehen, dorthin, wo nicht einmal mehr das Bewußtsein von jener allesumfassenden Leere (und folglich die Leere selbst nicht mehr) existiert, wo nichts mehr ist, nichts…

I M N AMEN DES V ATERS UND DES S OHNES UND DES H EILIGEN G EISTES. A MEN . Was kann ein Menschenwesen Schlimmeres treffen als der quälende Gedanke, daß Gott unendliche Finsternis sei… Um sich davon zu befreien, strömen die Geißler auf den Straßen zusammen; sich Schmerzen zufügend, blutüberströmt flehen sie Gott an, ihr Licht und ihre Existenz zu sein. Unsere Frömmigkeit ist düster und schreierisch, anders als zu Zeiten des heiligen Franziskus, der die Menschen lehrte, daß sie sich an Sonne, Blumen und dem Hauch des Windes erfreuen sollten. Wer empfindet heute schon, wenn er zum Himmel aufschaut, Freude über den Glanz der Sterne oder über die Wolkengebilde? Wer empfindet Wohlgefallen an einer blühenden Wiese? Wer endlich verspürt den freundlichen Schauer beim Umgang mit einem göttlichen Werk, etwa wenn er die Rinde eines Baumes berührt? Im brenzlichen Gestank knisternder Fackeln, eingehüllt in Weihrauchschwaden, angesichts des Allmächtigen, der auf den Altären wacht, schlagen wir die Stirnen aufs Pflaster unserer Gotteshäuser. Wir schreien unsere Sünden heraus, weil wir meinen, daß wir uns mit dem Benennen unserer Taten von ihrer Last befreien. Mag sein, daß ich sehr irre, aber ich denke, daß wir aufs Ende zusteuern. Nicht mehr fern ist die Stunde, da die Welt untergeht und Gott uns alle in sich aufsaugt, um einsam fortzudauern, inmitten des eigenen Seins. Fürwahr, ein erschreckender Gedanke, auch wenn er eigentlich jedes christliche Herz mit Freude erfüllen sollte.
    Also, wie ich bereits gesagt habe, die Stadt Arras litt. Jenes bedauernswerte Weib, das auf Befehl des Rates enthauptet wurde, war damals nicht die einzige Verbrecherin. Ähnliche Frevel mehrten sich. Die Menschen hörten auf, die Hölle und die ausgeklügeltsten Torturen zu fürchten, wenn sie nur ihren Hunger stillen konnten. Das Bestialische gewann die Oberhand über die Menschennatur. Man öffnete die Gräber der Verstorbenen und ergab sich dem grauenvollsten Kannibalismus. Es ereigneten sich Fälle, daß Familienangehörige einen Sterbenden erschlugen, um sich mit frischem, von Fäulnisgestank freiem Fleisch zu sättigen. Wie stets, wenn die Menschen das Ende aller Dinge voraussehen, wurde die Stadt von den zügellosesten Lastern erfaßt. Musterhafte, tugendsame Frauen führten sich wie Dirnen auf. Man konnte Szenen unbeschreiblicher Obszönität beobachten, die sich unter freiem Himmel, ja selbst vor Kirchenportalen abspielten. Unserer armen Sprache ist es versagt, jene Scheußlichkeiten und Greuel wiederzugeben. Als die Tochter eines gewissen Adligen ihre Gesundheit einbüßte, kroch dieser, von Lachen und Weinen geschüttelt, auf sie, wobei er ausrief, daß sie nicht aus dieser Welt gehen solle, ohne die

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