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Eine Messe für die Stadt Arras

Eine Messe für die Stadt Arras

Titel: Eine Messe für die Stadt Arras Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrzej Szczypiorski
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Vorstellungskraft, die lediglich vom Magen genährt wurde.
    Eine Art grausiger Befreiung lag darin. Denn bislang hatte ja jeden, wer immer er war, auf Schritt und Tritt die allmächtige Hierarchie begleitet. Unmöglich zu leugnen, daß die Hierarchie ein Segen ist, aber auch unmöglich zu leugnen, daß sie zugleich ein Joch darstellt. Ach, ich vertrete durchaus nicht die Ansicht, daß jemand, der als Ackersmann auf die Welt gekommen ist, darunter leidet, daß er ein Ackersmann ist – oder daß er jemand anderes sein möchte. So eine fixe Idee kann nur einem sehr beschränkten Geist entspringen. Es ist doch wohl klar, daß ein Ackersmann eben ein Ackersmann und folglich alles an ihm ackermännisch ist; jeder Teil seines Körpers ist der eines Ackersmannes, und so ein Mensch müßte schon aus sich herausgehen, außerhalb seiner Seinsweise zu stehen kommen, wenn er die eigene Bäuerlichkeit sehen wollte, wie ich sie sehe. Genauso steht es mit mir! Alles an mir ist Herrenwesen, und ich atme wie ein Herr, im Einklang mit der Vorherbestimmung meines irdischen Aufenthaltes. Und ich weiß nicht, wie ein Handwerker denkt, denn ich bin keiner, und selbst wenn ich es vermöchte, auf seine Weise den Verstand zu gebrauchen, so bleibt das doch immer die Urteilskraft eines Herren. Ich behaupte daher nicht, daß in jenen schaurigen Tagen des Hungers und der Seuche der Bauer sich seinem Herrn gleich fühlte! Es waren vielmehr die Herren, von denen er Schutz und Rettung erwartete. Als er dann einsehen mußte, daß selbst die Höchstgeborenen machtlos waren, wußte er, daß er verloren war. Und gerade die Machtlosigkeit derer, die höher gestellt schienen als er, war es, die ihn zunächst in Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit stürzte, doch allmählich zum Quell einer eigenartigen Kraft wurde. Sofern der Schutz der Mächtigen den Erfordernissen des Augenblicks nicht mehr gerecht wurde, verlor dieser seinen Wert. Der verwaiste Ackersmann wurde dadurch selbständig. Ähnlich erging es den Herren, die anfangs zu Rat und Kirche hinschielten und dabei erkennen mußten, daß sie von Rat und Kirche verlassen waren. Jeder von uns hatte sich sein Leben lang gehorsam gegenüber Höherstehenden gezeigt, und als plötzlich Hunger und Pest die Leiter der Hierarchie in den Dreck unserer gemeinsamen Hilflosigkeit stießen, entdeckten wir von neuem – ein jeder ohne Ausnahme – die Separation von der Welt. Wir waren verwaiste Verurteilte, aber wir waren jenseits aller Willfährigkeit, außer gegen uns selbst. Eine entsetzliche Einsamkeit hatte sich unser bemächtigt, doch lag in ihr zugleich etwas Großartiges. Bisher verharrten wir alle ausnahmslos – lebend oder sterbend – in einem Zustand der Unterwürfigkeit. Ich zweifle nicht daran, daß das ein süßer und Sicherheit gewährender Zustand ist. Wenn wir ihn erfahren, unternehmen wir alle Anstrengungen, um anderen zu imponieren, all denen nämlich, die höher oder niedriger als wir selber stehen. Unterwürfigkeit, Willfährigkeit, macht den Reiz unserer Existenz aus. Als Gegenleistung empfangen wir Schutz und Friede, mit einem Wort: die Willfährigkeit gestattet uns die Freude am Leben. Ohne sie läßt uns das Schicksal zur Beute unserer Vereinzelung werden. Und so sagten sich die Bürger von Arras in der Stunde des Verendens, unter schrecklicher Qual und mit Sinnenlust gepaarter Verzweiflung, im Flüsterton: »Ich bin der Menschensohn! Ich bin der Menschensohn, und nichts und niemand steht darüber!«
    Das war eine unerträgliche Last, und wohl darum stürzten wir in die tiefen Schlünde hinab.
    Aber unsere Hirne arbeiteten präzis, soweit das bei so grausam ausgehungerten Menschen möglich ist. Die einen hatten Gesichte und führten Gespräche mit ihren himmlischen Patronen. Man konnte ehemals skeptische Herren beobachten, die gewöhnt waren an feinsinnige Disputationen über die menschliche Natur, wie sie mit jemand Unsichtbarem plaudernd durch die Straßen von Arras spazierten. Dabei wahrten jene Herren, die da disputierten, ein sehr höfisches Gebaren, lächelten und verneigten sich vor ihrem Gesprächspartner, der geradewegs vom Himmel gekommen war. Nichts von mystischer Ekstase, von Fieber oder Krankhaftigkeit lag darin. Diese Menschen blieben sie selber in Wort und Gestik; vielmehr trat eine zweite Person aus ihnen heraus, ein Lebensgefährte, der, bisher gefesselt und schweigend, jetzt, in der furchtbarsten Stunde, ihnen gleich wurde und den sie auf dem Weg in den Tod an ihrer Seite

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