Eine Messe für die Stadt Arras
gehen ließen. Auch geschah es nicht selten, daß Mönche, die lange Jahre mit Gebeten, Fasten und Büßen verbracht hatten, aus ihren düsteren Klosterzellen ans Tageslicht krochen, sich Ausschweifungen mit Frauen hingaben und aus voller Kehle Gott lästerten. Und was vielleicht das Merkwürdigste daran ist: Jeder Bürger in Arras hielt damals eine gescheite Erklärung für die eigene Metamorphose bereit. Ich glaube, nie zuvor hat der Verstand derartige Triumphe gefeiert wie in jenen Tagen des allgemeinen Wertverfalls. Sowohl für moralische Größe als auch für Unrecht jeder Art lassen sich Rechtfertigungen finden. Bezeichnend ist, daß die Präzision dieser Rechtfertigungen die einen mehr, die anderen weniger gleichmachte. Und dieses Faktum wiederum gab unserem Leben in Arras das Maß zurück. Es hatte sich nämlich gezeigt, daß es nicht angeht, ohne bestimmte Wertmaßstäbe nur für den Magen, im Magen, durch den Magen zu leben… Zwar stellt der Magen eine mächtige, jedoch keine zufriedenstellende Größe dar. Daß alle ohne Ausnahme essen wollten, bedeutete noch nicht, daß alle ohne Ausnahme schlecht, gut, edel oder gemein waren. Und so begann sich allmählich unter den ausgemergelten, verzweifelten Gespenstern eine neue Hierarchie herauszubilden. Die einen lehrten, die anderen waren ihre Schüler. Und es war durchaus nicht wichtig, was den Gegenstand jener Belehrungen ausmachte, sondern wichtig war nur die Tatsache einer neuen Willfährigkeit, neuer Bindungen, die es den Menschen ermöglichten, die Last der drohenden Vernichtung leichter zu ertragen.
Das alles ist vor kaum drei Jahren geschehen… Wie kann man sich da über die Handlungen der Bürger von Arras vom letzten Herbst wundern?
Als alles verloren und es keine Hoffnung mehr für uns zu geben schien, erlosch urplötzlich die Pest. Hatte Gott eingesehen, daß wir die Hölle durchlebt hatten? Zunächst merkten die Menschen überhaupt nicht, daß sich ihr Geschick gewendet hatte. Von Tag zu Tag gab es weniger Tote, und um unser Glück vollzumachen, blieben die Räuberbanden aus, und von neuem knirschten allmorgendlich die bischöflichen Proviantfuhren über den Sand. Es war wie ein Spuk. Unsere Sattheit und Gesundheit drangen gar nicht in unser Bewußtsein. Noch immer spielten sich lästerliche und geile Szenen ab, aber nach und nach erloschen die Leidenschaften, und damit begann in Arras eine unbeschreibliche Scham aufzukeimen. Diejenigen, die Dispute mit den heiligen Patronen geführt hatten, höhnten jetzt die Himmel, und die, die Drohungen gegen Gott ausgestoßen hatten, peitschten sich vor den Kirchenportalen. Farias de Saxe teilte keine Lebensmittel mehr aus; sie waren wieder in Hülle und Fülle vorhanden. Und wie ehedem gab sich das einfache Volk mit dem Schlechteren zufrieden, während die Herren das Bessere für sich in Anspruch nahmen. Und wie früher lehnte sich niemand dagegen auf! Langsam kam alles wieder ins rechte Lot, auch wenn das zurückgewonnene Gleichgewicht schwankend und fade blieb, weil gewisse Erfahrungen im Gedächtnis der Menschen Wurzeln geschlagen hatten, und wenn auch alle demütig für die Errettung dankten, konnte man sich des Lebens dennoch nicht wie in alten Tagen freuen. Auch wenn sie Schutz suchten und fanden in Gehorsam und Gemeinsamkeit, wollte doch die Erinnerung an ihre Vereinsamung nicht weichen. Für manche war die Scham schwerer zu ertragen, als es die Pestgefahr gewesen war.
Obschon allgemeine Verzeihung mild die Stadt einhüllte und die Leute so taten, als wenn nichts vorgefallen wäre, was ihre Ehre geschmälert hätte, so waren dennoch die Nächte in Arras ruhelos, voll böser Träume, verzweifelter Erinnerungen und demütigender Tränen. Schon damals verlangte es Arras nach Läuterung, schon damals suchte man nach der Formel, die als Schlüssel für das ganze Drama dienen konnte.
Am Tag, da die Tore geöffnet wurden, läuteten im Triumph alle Glocken, und eine gewaltige Prozession umschritt die Mauern der Stadt. Gegen Abend fiel dichter Regen und spülte die Reste des Unrechts fort. Am Tag darauf ritt unter blauem Himmel, im Licht der Morgensonne, Fürst David in die Stadt ein.
Man empfing ihn demütig, wie es einem hochwürdigen Hirten, der zugleich der Sohn eines Königs ist, gebührt, jedoch ohne die Liebe, die man sonst seinem Wohltäter zu Füßen legt. David segnete in Gegenwart Vater Alberts die Stadt; ein ziemlich großer Teil der Bürgerschaft von Arras neigte den Kopf, beugte aber nicht
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