Eine Messe für die Stadt Arras
das Knie.
Damals sagte Albert leise:
»Verzeiht ihnen, Euer Herrlichkeit, aber schweres Los hat sie heimgesucht, und sie zweifeln an allem…«
Worauf David erwiderte:
»Was kümmern mich ihr Glaube und ihr Zweifel! Wichtig ist, daß sie überlebt haben!«
Ehrlich gesagt, fühlte ich mich ein wenig betroffen. Denn wenn jemand unsere Zweifel nicht achtet, achtet er auch uns und unser Schicksal nicht. Aber ich schwieg, weil es mir nicht recht schien, dem Fürsten dawiderzureden.
Während seines Aufenthaltes herrschte eine gezwungene Atmosphäre. Das bedeutete durchaus nicht, daß der Fürst seine Einstellung zur Stadt geändert hatte oder daß in der Stadt etwa eine tiefere Abneigung gegen ihn herrschte. Die körperliche Sattheit hatte sich rasch besänftigend auf die Gemüter ausgewirkt, und kaum jemand dachte noch daran, daß die Stadt immerhin auf Befehl des Bischofs von der Welt abgeschnitten gewesen war. Die Sache war die, daß die Wege unserer Erfahrungen um ein weniges auseinanderliefen. Während wir in den Mauern von Arras mit Pest und Hunger umgingen, tafelte David in Gent. Ich möchte das Problem nicht allzu oberflächlich angehen. Niemand bezweifelte das ehrliche Mitgefühl des Fürsten und seinen Wunsch, uns zu Hilfe zu eilen. Aber etwas anderes heißt es, zu retten, als: gerettet zu sein. Etwas anderes zu leiden und wiederum etwas anderes, Leiden zu beklagen. Etwas anderes endlich, zu wissen, als zu kennen. Denn der Fürst wußte zwar, daß es den Tod gibt, wir aber hatten Bekanntschaft mit ihm geschlossen. Wieder aus dem Abgrund aufgetaucht, fühlten wir etwas wie Sehnsucht nach den Erfahrungen, die uns gegeben waren und die uns bereichert hatten. Keiner in Arras erinnerte in aller Offenheit an die Tage der Pest. Aber man gedachte ihrer gar oft, so als bargen sie eine Labe und zudem ein Geheimnis, das nur uns, den Bürgern dieser Stadt, anvertraut war und das niemandem verraten werden durfte.
So kam es auch, daß man gewisse Kapricen des Fürsten nicht mehr mit dem einstigen Verständnis aufnahm. Er faßte das als Beweis unseres Unwillens auf und reagierte ziemlich ungehalten. Bei seinem Festbankett aßen die Bürger von Arras sparsam und tranken noch weniger, während der bischöfliche Hof, wie das so Brauch war, heftig über die Stränge schlug.
David beugte sich zu mir und sagte:
»Ich sehe, daß euch mein Essen im Maul wächst. Was sind denn das für Faxen, Jean? Gebt acht, daß ich das nicht als eine Beleidigung ansehe!«
»Fürst«, erwiderte ich, »urteile nicht so streng über uns. Wir lieben dich wie eh und je, und das Mahl an deiner Tafel macht uns froh. Aber wir haben heute einen anderen Geschmack. Jeder Bissen Fleisch ruft ein Gefühl in uns wach, von dem die Brabanter Gaumen keine Vorstellung haben. Das Essen wurde für uns zu einem Erlebnis, einem ziemlich unerfreulichen übrigens… Was einst in unseren Augen als eine Annehmlichkeit galt, ist für uns heute mehr als bloße Notwendigkeit. Wir sind nicht schuld daran, Fürst.«
»Schon immer neigte Arras zu Übertreibungen«, erwiderte David. »Es ist ja eine Stadt schöner scholastischer Traditionen; hier hat man sich einst um die Anzahl der Haare im Schwanze Beelzebubs gestritten. Ich glaube sehr wohl, daß ihr grausame Leiden erduldet habt. Aber wo steht geschrieben, daß man sich dessen rühmen soll?«
»Wir wollen keinen Ruhm, Euer Herrlichkeit, vielmehr Stille, Sicherheit und Frieden. Wir sind nicht stolz auf unser Leiden. Ich meine sogar, daß mehr Scham in uns ist als Ruhmsucht, wenn wir uns der jüngstvergangenen Zeit erinnern. Aber es ist nun einmal so, daß es unser unveräußerlicher Besitz ist. Man kann sich in Arras nicht von diesem Leiden lossagen, man kann es nicht abtragen und nicht mit der Wurzel ausreißen. Es ist zu einem Stück von uns selber geworden. Drücke ich mich klar genug aus?«
»Du drückst dich klar genug aus, aber das ändert nichts an der Tatsache, daß Arras mir heute – bewußt oder unbewußt – vorwirft, an eurer Schicksalsprüfung Anteil gehabt zu haben. Es reibt mir seine Wunden und seine Friedhöfe unter die Nase, während ich mich des Lebens freuen und mich meinen Vergnügungen hingeben will. Mag sein, daß euch die Tage des Hungers und der Seuche veredelt haben, aber es besteht absolut kein Grund, dieses Faktum zu einem Beispiel für andere machen zu wollen. Die Seuche hat Arras und nicht Gent betroffen. Glaubt ihr, ihr dürftet zu Recht behaupten, daß ihr etwas Besseres seid?«
»Wir
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