Eine Messe für die Stadt Arras
Vogels im Flug berührt.
Alle blickten sie auf diesen düsteren Juden; der aber schaute nur zu mir, wie ein Stummer zu einem Redenden schaut oder ein kluges Tier zum Menschen… Bei Gott, das war nicht leicht!
»Was denn! Die Juden diktieren dem Rat von Arras ihre Gesetze?« kommentierte Albert leise.
Jener senkte den Kopf:
»Wir hegen die größte Ehrfurcht vor dem Rat. Wir legen dem Rat nur unsere demütige Bitte vor…« Und noch tiefer beugte er den Nacken.
I M N AMEN DES V ATERS UND DES S OHNES UND DES H EILIGEN G EISTES. A MEN . Wie trostlos ist doch die Welt konstruiert. Stellt euch einmal vor, wie ein Ochse lebt. Er geht im Joch über die Felder, den Schädel tief gesenkt in Erwartung der Peitsche. Am Strick läßt er sich zur Schlachtbank führen, und wenn sie ihn abstechen wollen, geht er von selbst in die Knie. Aber wenn ihn ein gütiges Geschick zum Stier bestimmt hat, was dann? Vergeblich müht man sich, ihm das Joch aufzubürden. Er zerreißt die Zugleine und zerstampft jedes Feld. Fünf erwachsene Männer müssen ihn zum Schlachten zerren, und es kommt nicht selten vor, daß man ihm, der mit furchtbarem Gebrüll die Luft erfüllt, die Knochen bricht. Ganz anders ist die tierische Natur, wenn das Gefühl der eigenen Kraft ihr innewohnt. Und so pflegt es auch mit dem Menschen zu sein!
Wie sollte sich denn die Mäßigkeit der braven Stellmacher von Arras auswirken, wenn sie auf den Ratsbänken saßen? Die einsame Gestalt des Juden verkleisterte den ergrimmten Bullen den Blick. Schlecht tat er daran, daß er so demütig sprach; denn nichts war ihnen in diesem Moment so widerwärtig wie gerade Demut. Ihre Nasenlöcher witterten den Brodem der Barbarei. Wenn er ihnen damals freche Worte entgegengeschleudert hätte! Aber nein… Er stand reglos in seiner Verbeugung, was man als eine Geste der Schwäche und der Ehrerbietung deutete. Für Menschen vom Format des Herrn de Saxe und auch für mich, die wir ja an eine gewisse Unterwürfigkeit unserer Umgebung gewöhnt waren, betrug sich der Jude ganz normal. Aber jene, die auf Alberts Wunsch hin im Rat saßen, erlebten eine solche Wonne zum erstenmal.
Einer schrie: »Tiefer den Kopf, Jude!« – Was jener sogleich tat.
Ich sah zu Albert hinüber. Mitten im zerzausten Barthaar zeigte sich ein Lächeln.
»Ich gewahre in eurer Schrift nicht die Achtung, wie sie dem Rat gebührt«, sagte Albert. »Du kommst zu uns mit einer Bitte, und man muß dich lehren, wie man eine Verbeugung macht. Wir sind einsichtsvoll, aber gib acht, daß nicht das Maß unserer Geduld überschritten wird.«
»Herr«, antwortete der Jude, »es ist nicht die Schuld meiner Glaubensgenossen, daß sie einen so nichtswürdigen und elenden Gesandten erwählt haben. Wenn nötig, nehme ich die Strafe mit wirklicher Achtung auf mich, aber bitte, laßt nicht die Gemeinde euren Zorn fühlen; sie ist unschuldig!«
»Sieh einer den jüdischen Rabulisten an!« brüllte der Bäcker Mehoune.
Allgemeiner Tumult erhob sich. Doch Albert gewann sofort die Oberhand über die ganze Sippschaft wieder.
»Pax! Pax!« rief er. »Nicht würdig ist es, sich im Rate zu ereifern!«
Auf der Stelle wurde es still, und unser ehrwürdiger Vater fragte den Juden nach seinem Namen. Dieser gab zur Antwort: »Icchak«, und Albert hieß ihn mit einer Handbewegung sich entfernen.
»Herr«, sagte Mehoune, »wie kann das angehen, daß der Rat die jüdische Beleidigung ungestraft läßt?«
»Ich habe nichts von einer Beleidigung bemerkt, Bäcker«, erwiderte Albert.
Wieder schrien alle durcheinander, er aber besänftigte sie.
»Mehoune«, sagte er zu dem Bäcker, »meinst du wirklich, daß der Jude absichtlich den Rat herabsetzen wollte?«
»Das meine ich«, rief der Tölpel racheschnaubend und ganz rot vor Wut.
»Und du, Tuchmacher Yvonnet?«
»Ich bin auch der Ansicht«, antwortete Yvonnet.
Alle der Reihe nach sagten dasselbe.
Albert war mit ihnen zu Ende und wandte sich nun an mich:
»Jean, mein lieber Freund, wie denkst du darüber?«
»Ich meine«, antwortete ich nicht ohne Furcht, »daß sich der Jude dem Rat gegenüber ungehobelt betragen hat.«
Der ehrwürdige Vater lächelte sanft und wandte sich nunmehr an Herrn de Saxe:
»Und Ihr, lieber Graf, was ist Eure Meinung?«
De Saxe fauchte wie ein Kater:
»Werter Herr Albert«, sagte er, ohne mit seiner Wut hinterm Berg zu halten, »ich bin ein de Saxe, wie könnte ich mich da von einem Juden beleidigt fühlen! Wo steht er, und wo stehe ich!«
Albert
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