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Eine Messe für die Stadt Arras

Eine Messe für die Stadt Arras

Titel: Eine Messe für die Stadt Arras Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrzej Szczypiorski
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vermag.
    Meine Herren! Ich will euch nicht die Illusionen rauben: doch nicht der ist in Wahrheit frei, der es ist, sondern der, der es zu sein verlangt. Brügge ist eine große, reiche Stadt, aber Gott hat ihr den Niedergang erspart, sie kann also nie zu wahrer Hoheit gelangen. Ihr habt stets auf eure Karten, Schiffe und Kapitäne vertraut. Ein gutes Vertrauen, aber es führt nicht zur vollen Erlösung. Ich habe gehört, daß ihr in Brügge die Leiber eurer Verstorbenen zerstückelt, um herauszufinden, was sich im Menschen verbirgt. Wir in Arras haben dasselbe getan, aber zu einem anderen Zweck. Uns hat der Hunger geleitet, nicht die Neugier. Und eben darum wissen wir hundertmal mehr über den Menschen!
    Hört mir aufmerksam zu! Denn das kann euch von Nutzen sein, wenn nicht heute, so doch morgen. In jener Nacht, da Arras vom Tumult des großen Gemetzels widerhallte, redete ich mit Gott und dem Teufel. Im matten Schein der Fackeln und Öllampen unterredete ich mich, einsam und verdammt, mit diesen zwei.
    All die Jahre hindurch hatte der ehrwürdige Albert stets von neuem betont, daß ich der Stadt Arras Dankbarkeit schulde, weil sie mich zum Gipfel des Erfolgs emporgetragen habe. Ohne sie wäre aus mir nichts weiter als ein elender Höfling Davids geworden, oder ich hätte mir in irgendeiner einträglichen Abtei eine Glatze geholt. Arras hatte mich zum Mitbeherrscher aller Menschen, Tiere, Pflanzen, Waren und Güter gemacht, die sich innerhalb seiner Mauern befanden. – Als Entgelt dafür verlangte man so wenig: daß ich den Gesetzen treu war und die Stadtprivilegien wahrte. Bei Gott, ein erbärmlich niedriger Preis für einen so schönen Lebenslauf!
    Gute Herren, jetzt horcht auf! Was bedeutet euch die Stadt? Was ist sie in euren Träumen? Wenn einer unter euch von Brügge träumt, erscheint es ihm im Knirschen der Schiffstaue, im Geruch von Tang und Fisch. Über seine Dächer fliegen hurtig die Möwen dahin; alles ringsum ist in Bewegung, ist voller Getriebe eines unaufhörlichen Nachforschens und Auskundschaftens. Brügge ist wie ein Vogel, während Arras wie ein Baum ist. Ein jeder dort fühlt tief in seinem Inneren die Wurzeln dieses Baumes, so wie jeder von euch die schwebende Leichtigkeit und Freiheit eines Zugvogels in sich spürt.
    In jener Nacht in der Kirche des heiligen Ägidius marterte mich die Frage: Wie ist meine Stadt? Ich wollte Arras unbedingt in der vollen Entfaltung seiner Sünden und Tugenden schauen. Der Widerhall von Mord und Totschlag drang an mein Ohr und mich schauderte vor Angst und Schmach. Siehe, das ist deine Stadt! sprach ich zu mir selber. Aber glaubt mir, es war Gott, der da zu mir redete. Doch bald schon meldete sich auch der Teufel zu Wort. »Es gibt keine andere Stadt«, sprach er, »als die Stadt, deren Name Wahrheit heißt.« – »Was aber heißt Wahrheit?« fragte ich verstört. Da hörte ich wieder Gottes Stimme:
    »Ich habe Abraham befohlen, aus Ur fortzugehen, die eigene Stadt im Stich zu lassen, damit er kein anderes Verlangen mehr habe als nur noch das Verlangen nach Gott. Ich habe Abrahams Wurzeln aus seiner eigenen Erde herausgerissen, damit er kein anderes Land habe als Gottesland.«
    Was hat das zu besagen? grübelte ich und schlug mit der Stirn auf die kühlen Steine des Fußbodens. Und da erlauschte ich das Geflüster des Teufels: »Jean, wohne in einer Stadt, deren Name Jean ist!«
    Die Fackeln waren nach und nach erloschen, das ganze Gotteshaus füllte sich mit dem bitteren Geruch von Pech. Ich befand mich im Dunkeln, nur vom Altar her warf das matte Ewige Licht einen flackernden Lichtstreif in die Finsternis. Ich hatte Angst, ich sterbe und tauche in dieser Finsternis unter, ohne eine Antwort auf die schrecklichen Fragen erhalten zu haben. Was, wenn meine Seele entflieht? Ob die Bahn, die zum Himmel führt, außerhalb der Mauern von Arras beginnt oder eben gerade hier, mitten im Gejohle meiner Mitbürger ihren Anfang nimmt? Hier, im Glimmen des allmählich verlöschenden Scheiterhaufens, im Radau und im Gewieher scheuender Pferde, in den fieberhaften Gebeten und dem Gestöhn der Geißler vor den Kirchenportalen?
    Ach, ich habe ja gewußt, daß die Bürger von Arras böse handelten, daß sie ein Opfer ihrer Roheit geworden waren. Aber schließlich hatte ich teil an ihrer Verzweiflung und an ihrer Läuterung. Durfte ich denn meine persönlichen Wahrheiten über den Willen der Stadt stellen? Mir ging durch den Kopf, immer wieder, daß mich diese nichtendenwollende

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