Eine Messe für die Stadt Arras
vor. Die Fackeln knisterten feindselig, immer wieder versprühten sie Funken, die in den Pfützen verloschen. Auf einmal faßte ein Büschel Erbsenstroh Feuer. Die Flamme schoß in die Höhe und erleuchtete die ganze Straße.
»Teufel, Teufel!« schrie irgendwer in der Menge. Furchtsam zogen sie die Köpfe ein, dann aber – wie eine Meereswelle einen Erdwall durchbricht – stürzten sie sich nach vorn.
»Der Älteste der Gemeinde!« riefen sie. »Wo ist der Älteste der Gemeinde?«
Die jüdischen Häuser schwiegen bang. Nicht das leiseste Geräusch drang nach außen.
Als für einen Moment die Stille der wogenden Menge in sich zusammensackte, drang plötzlich Pferdegetrappel an unser Ohr. Im Schein des hochauflodernden Feuers erblickten wir einen Reiter in dunklem Umhang auf einem braunen Pferd, das aus einem Gehöft hervorsprengte und in Richtung Westtor davongaloppierte. Einige Bürger verstellten ihm den Weg, packten das Pferd beim Zaumzeug, klammerten sich an seinen Hals. Andere zerrten den Reiter zu Boden. Sie schleiften ihn über das Stroh der Straße und traktierten ihn mit Fußtritten.
»Er wollte aus der Stadt fliehen!« riefen sie. »Das ist der Überläufer, der die gute Stadt Arras an den Teufel ausliefern wollte…«
Der Jude schwieg. Als sie mit ihm auf dem Marktplatz ankamen, gab er kein Lebenszeichen mehr von sich. Dennoch band man ihn an einen Pfahl, Schulter an Schulter mit Icchak. Und wieder wurde ein Scheiterhaufen angezündet. Als die Flammen emporschossen, schrien die Leute noch immer:
»Da haben wir den Bundesgenossen des Satans, der die Tore von Arras allem Unrecht öffnen wollte…«
Gewaltsam drangen nunmehr die Bürger in die Gehöfte der Juden am Westtor ein. Ein unbeschreibliches Lamento stieg zum Himmel auf, wo hier und da schläfrig ein Stern blinzelte. Ich entfernte mich und ging zur Kirche des heiligen Ägidius. Dort, im düsteren Kirchenschiff, war kein einziger Mensch. Ich kniete auf dem Stein nieder und betete voller Inbrunst.
I M N AMEN DES V ATERS UND DES S OHNES UND DES H EILIGEN G EISTES. A MEN . Meine Herren! Erwäget recht, was ich euch jetzt sage. Ich bin in Brügge ein Ankömmling aus einer anderen Welt. Eure Stadt gilt als ein Musterbild sämtlicher Tugenden, obschon es hier – wie ihr selbst sagt – Liebe und Gottesfurcht gibt als Waren zum Verkauf. Ihr gehört zu der besonderen Art von Menschen, die Tage und Nächte in dämmrigen Kontoren oder inmitten kreischender Segelschiffe im reichen Hafen zubringt. Ihr pflegt den Verkehr mit so weitentfernten Ländern, von denen die Menschen in Burgund nicht einmal eine Ahnung haben. Auf euren Tischen häufen sich die seltsamsten Gewürze, Blumen und Früchte, die in den Herzen der Bürger meines fernen Herzogtums ganz bestimmt Furcht hervorrufen würden. Ihr zieht hinaus in die weite Welt und kennt Erdbewohner gelber, brauner, schwarzer und blauer Hautfarbe. An so vielen Wundern und Greueln habt ihr euch ergötzt, daß der Glaube an den Teufel schon keinen Platz mehr in euch hat. Wir gehören unterschiedlichen Welten an.
Nachdem ich das Tor eurer Stadt, das mir so gastlich offenstand, hinter mir gelassen hatte, lenkte ich meinen Schritt als erstes zu den Reliquien der heiligen Ursula. Und ich war – o Wunder! – der einzige Mensch seit vielen Jahren, der einzige Mensch, der an diesem heiligen Altar ein Gebet gesprochen hat.
Brügge ist eine hochachtbare Stadt, und ich neige mein Haupt vor eurer Klugheit, eurem Unternehmungsgeist und Reichtum; aber glaubt mir, niemals werden wir uns bis ins letzte verstehen! Da mich die saftigen Wiesen Brabants und die Lehren der heiligen Kirche großzogen, segeltet ihr durch ferne Meere. Da ich fastete und Buße tat, schildertet ihr eure Abenteuer auf zauberischen Inseln, im Lande der Winde oder gar an den Grenzen des Kalifenreiches. Da ich treu auf Seiten der Herzöge stand, hattet ihr genügend Mut und Stärke, die Herzöge zu kränken. Ich bin euch dankbar für die Zuflucht und voller Demut, darum, daß es jetzt an mir ist, in dieser herrlichsten Stadt unter der Sonne zu leben. Dennoch besitze ich einen Schatz, der euch nicht gegeben ward. Ich, ja ich, habe die Stimme Gottes und des Satans vernommen. Ich habe mit Himmel und Hölle Umgang gepflogen, habe an mir selbst erfahren, was das heißt: Kampf um die Erlösung der Seele. Ich habe so viele Leiden, Aufschwünge und Zusammenbrüche durchgestanden, daß ihr überhaupt nicht fassen könntet, was mein Herz alles zu fassen
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