Eine Messe für die Stadt Arras
anderen Menschenherzen.
Bisweilen in meinem Leben dünkte es mich, daß ich aus einem düsteren Wald herausschaue, wo ich wie das Moos war, wie die Blätter oder die flinken Wiesel. Damals wußte ich noch nicht, daß ich bin. Aber nachdem ich erst einmal Wissen über mich zusammengetragen hatte, begann ich nach einem Bezugspunkt zu suchen, und ich fragte: Wo ist er?
Wenn von Brügge aus ein Schiff auf große Fahrt geht, vereint die auf dem Deck Versammelten nur das Bewußtsein, daß sie allein auf der Welt sind, allein inmitten der entfesselten Elemente des Ozeans. Sie blicken auf zu ihrem Kapitän, und jeder Matrose vertraut ihm mehr als Gott. Eine unachtsame Bewegung genügt, und der Mensch findet sich über Bord wieder – in Verlassenheit und Verderben. Alle wissen das, und darum halten sie zusammen. Gemeinsam packen sie das Ruder und gemeinsam hissen sie das Segel. Wenn einer zweifelt, genügt es, daß er auf die starken Arme des Gefährten schaut, um sich wieder frischer zu fühlen. Und wenn sie durch Untiefen und zwischen Felsenriffen hindurchsegeln, lassen sie kein Auge von den Lippen des Kapitäns. Ach, ich habe gehört, wie schwer es die Männer auf euren Schiffen haben! Das widerlichste Gewürm, erbärmliches Essen, eine grausam harte Arbeit und die Peitsche der Aufseher. Wer sich auflehnt, den knüpfen sie an der Reling auf. Die Seeleute verfluchen ihr Geschick, und nicht selten hassen sie das Schiff. Aber bei dem Gedanken, es könnte auf ein Riff auflaufen, bersten und versinken, packt sie die Angst. Es hat Männer gegeben, die ähnliche Vorfälle miterlebt haben. Sie hatten sich auf einen winzigen Kahn gerettet – ein Spielball der Wogen über Wochen hinaus. Allein, zwischen Himmel und Wasser, erinnerten sie sich fast mit Zärtlichkeit ihres Schiffes, der Kameraden, des Kapitäns und sogar der unbarmherzigen Aufseher. Auf Deck waren sie, trotz allem, Menschen gewesen, wo sie jetzt nichts weiter waren als ein Spaß für die tobenden Elemente…
Man selber zu sein bedeutet, nicht jemand anderes zu sein. Und das ist alles! Aber nicht jemand anderes sein kann man nur inmitten von anderen. Das ist es, warum ich im Rat gesessen habe und in Arras geblieben bin!
Ja, das stimmt – wenn auch nur teilweise. Denn als man mich aus dem Rat entfernte, begriff ich, daß ich nicht ohne Schuld war. Jean, sprach ich zu mir selber, warum hast du Farias de Saxe nicht verteidigt? Weil er keine Verteidigung verdient hat, antwortete ich mir auf der Stelle. Er verstand sein Leben nicht zu schätzen, und so war es ganz richtig, daß er zugrunde ging! Aber sogleich verfolgte mich ein neuer Gedanke. Da jene für die Hinrichtung Farias de Saxe’ gestimmt haben, hätte ich, wenn ich ein anderer sein wollte, dem Widerpart bieten müssen. Der Wunsch nach Einhelligkeit des Gedankens, erwiderte ich mir darauf, ist offenbar stärker als der Wunsch nach Wahrhaftigkeit. Denn nicht aus der Wahrheit schöpfen wir das Gefühl der eigenen Sicherheit, sondern aus der Gemeinschaft. Arras ist das, was uns im Guten und Bösen verbindet. Und außer Arras besitzen wir nichts. Und der Glaube? fragte ich bang. Der Glaube, entgegnete ich unverzüglich, ist ein Körnchen – während Arras der Erdboden ist. Ohne diese Stadt würde der höhnische Wind unseren Glauben über fremde Felder verstreuen, und wir würden Bettler sein an den zugeschlagenen Pforten der Heiligtümer.
Meine Herren! Während ich euch meine Gedanken vom vergangenen Herbst vortrage, bin ich innerlich kühl und ruhig. Aber damals durchlebte ich ein verzweifeltes Auf und Ab der Gefühle, ich irrlichterte durchs Haus wie ein Nachtfalter im Fackelschein und fand keinen Augenblick Linderung. Alle frivolen Gelüste waren mir vergangen, nicht einmal Lust auf eine Frau verspürte ich, obwohl ich sie hätte haben können – es gab ja genügend dienstbare Weiber, die nur eines Winkes von mir harrten. Tage- und nächtelang suchte ich nach einem Ausweg, und unterdessen blutete die Stadt wie eine offene Wunde. Gute Freunde kamen zu mir gelaufen und berichteten von den schrecklichsten Dingen. In diesen Tagen war es durchaus nicht wie damals während der Pest. Damals kämpfte Arras um sein Leben. Jetzt ging es nur noch um die Begleichung niedriger Rechnungen. Auf jeder Straße trieben sich Zuträger herum und lauschten, was andere sprachen. Dann liefen sie damit zum Rat. Im Rat selber stand es schlecht; einer blickte auf den anderen scheelen Auges. Der Wagner Thomas, der das Haus Herrn de
Weitere Kostenlose Bücher