Eine Messe für die Stadt Arras
letzten Worten stahl sich ein Hoffnungsschimmer in mein Herz. Aber schnell tilgte er ihn wieder:
»Du gehst unters Schwert! Aber ich erspare dir die Folter.«
»Vater!« sage ich. »Das machst du doch nicht mit deinem treuesten Schüler! Was willst du denn von mir und von dieser Stadt? Welche Teufel reiten dich, und was bezweckst du damit, wenn du hier Scheiterhaufen entfachst und die achtbarsten Leute dem Henker übergibst?«
Hier kreischte Albert auf und hob die Hand, als wenn er mich schlagen wollte, aber plötzlich war alles in ihm erschlafft; matt sank er auf eine Bank nieder.
Ich schaue auf ihn – und begreife nichts. Denn Albert weint. Tränen rinnen ihm über die aufgedunsenen Greisenwangen, rieseln in seinen weißen Bart. Er bebt am ganzen Leibe wie ein Strauch im Wind. Ich klatsche in die Hände und befehle dem Lakaien, einen Krug Most zu holen.
»Nicht nötig«, sagte Albert leise. Doch dann trank er gierig. Und wieder begann er zu weinen. Ich hatte mich zu ihm gesetzt. In mir zuckte die Hoffnung wie ein verkappter Falke, und auch bitteres Mitleid sprengte mir schier die Brust. Schließlich war dieser Mann mein langjähriger Beschützer und Lehrer, der allerehrwürdigste und härteste Mann unter der Sonne, der nun schon seit zwanzig Jahren die große Stadt Arras im Zaum hielt – und da weinte er nun wie ein Kind und konnte kein Wort hervorbringen.
»Vater Albert«, sagte ich weich, »gib Frieden… Alles wird gut!« Und während ich das sagte, glaubte ich sogar daran. Ich hatte auf ihn einzureden begonnen, wie man ein kleines Kind tröstet, und ich verspürte sogar Lust, seine Hand zu fassen, um sie zu küssen, aber auf einmal war mir wieder gegenwärtig, was rings um mich geschah, und ich hielt mich zurück.
Da blickte er mich unter den geschwollenen Lidern hervor an – so schauten nur die Augen eines Blinden. Aber er sah.
»Hast du gedacht, Jean, daß mir in dieser Stadt leicht zumute ist?« sagte er leise. »Hab ich vielleicht ein Herz aus Stein und ein Gemüt, das gelähmt ist durch Feindseligkeit gegenüber dem Menschengeschlecht? Ich leide so schrecklich in Arras wie niemand sonst.«
»Was bezweckst du, Vater?«
»Sie zu befreien!« sagte er unerwartet kraftvoll. »Ihnen ein Licht anzuzünden in dieser grausamen Finsternis…«
Seine Stimme klang wieder fester, und die Tränen auf seinem Gesicht waren getrocknet. Aber glaubt nicht, meine Herren, daß da eine Inspiration in ihm gewesen war oder ein Teufelsfunke! Nichts dergleichen! Wenn dort etwas war unter der Schale der Worte, dann die erstaunliche Nüchternheit eines Verstandes, der alles erwog, alles verknüpfte und alles bis auf den Grund durchleuchtete. Um so schrecklicher waren seine Worte:
»Jean«, sprach er zu mir, »ich habe dich als meinen Nachfolger gesehen… Denn ich weiß wohl, daß ich selber nicht mehr ans Ziel komme. Der Weg ist sehr lang und erfordert nicht wenig Härte. Denk an diese unglückselige Stadt. Wie sehr sehnt sie sich nach Befreiung! Die Menschen wurden aus dem Paradies vertrieben, sie fühlen, daß diese Welt nicht ihre Welt ist; fremd ist sie ihnen und schwer erträglich, böse und gleichgültig. Sie wurden geboren und starben im jämmerlichen Lauf der Dinge zwischen Schafscheren und Hanfschwemmen und dem Weben von Serge. Sie wurden geboren und starben, ohne zu wissen, weshalb sie leben mußten auf dieser Erde. Denn es darf doch nicht das Ziel des Menschenlebens sein, Schafe zu scheren, Hanf zu weichen und Serge zu weben. Und es ist nicht sein Sinn und Zweck, daß man mit Frauen schläft, ißt, Kühe melkt, Pferde beschlägt und das Waldgetier jagt. Wo ist das Paradies, das sie noch vor ihrem Auf-die-Welt-Kommen verloren haben, und wo soll man es suchen, um ein kleines bißchen Sinn in dieser verrückten Mühle zu finden? Vorjahren fiel die schreckliche Seuche auf sie herab. Sie schnitten sich gegenseitig die Kehlen durch und fraßen Menschenfleisch. Die Hölle! Und als die Seuche vorüber war, kehrten sie wieder zu Hanf und Serge zurück, wurden nachlässig, zweifelten; die Herzen verdorrten ihnen zu Hobelspänen. Wenn der Löcherpilz einen mächtigen Stamm zerfrißt, braucht es Äxte und einen starken Arm, um diesen umzuhauen. Manchmal reicht das nicht aus, und ein feuriger Blitz muß vom Himmel herniederfahren und das Bauminnere ausbrennen, den Baum umstürzen, ihn in einen rauchenden Scheiterhaufen verwandeln, damit im Jahr darauf gesunder Same auf der Brandstätte keimen kann… Am Westtor, wo die
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