Eine Messe für die Stadt Arras
Juden wohnen, gibt es einen kleinen Teich, der dicht mit Entengrieß und Wasserlilien bewachsen ist. Die Zeit fließt dahin, und der Teich wächst immer mehr zu. Als ich vor Jahren hierherkam, sah ich dort noch klares Wasser und eine Fülle fetter Karpfenfische in der Tiefe. Aber Jahr um Jahr verrann, der Entengrieß kam vom Ufer her, die Lilien überwucherten den ganzen Teich, und schon sah man keinen Wasserspiegel mehr, nur einen grünen Pelz aus Pflanzen – gefräßigen, unersättlichen Pflanzen. Die Karpfen trieben mit geblähten Kiemen an der Oberfläche. Es gab keinerlei Leben mehr im Teich. Und das hat mich furchtbar gequält. Warum gibt es kein Licht für diese unglücklichen Fische in der Tiefe? Müssen sie hoffnungslos zugrunde gehen? Immer wieder wanderte ich zu diesem Teich und warf Steine ins Wasser. Der ganze grüne Pelz plusterte sich wütend auf, eine Bewegung lief über die Wasserfläche dahin, der Entengrieß zitterte, die Lilien kringelten sich zusammen und machten sich flach, und eine Fontäne klaren Wassers schoß aus der Tiefe empor. Da dingte ich Leute, damit sie mit mir zusammen Steine in den Teich warfen. Sie hielten mich für verrückt. Nicht jeder versteht die Liebe. Was mit dem Teich geschah? Ein richtiger Höllenpfuhl… Ach, wie wollte ich mit Feuer diese Lilien und Flechten verbrennen, um den Wasserspiegel freizulegen und ihn den Sonnenstrahlen auszuliefern! Als die Leute die Steine warfen, begann sich in der Tiefe etwas zu regen – das Wasser belebte sich, so als sei der Teich endlich erwacht. Ich befahl den Leuten, die Lilien mit Ruten zu züchtigen, und die Leute züchtigten sie. Und die Lilien, sie wanden sich vor Schmerz, zuckten wie wild, aber dort, wo die Schläge hinfielen, enthüllte sich der klare Wasserspiegel. – Jean, vertrau mir, ich beschwöre dich! Man muß diese Stadt bis aufs Blut peitschen, von allen vier Weltenden anzünden, in einen Wohnsitz für wilde Tiere verwandeln, damit sich das wahre Antlitz des Menschen enthüllt! Nur nach dem einen tragen die Menschen Verlangen: nach Veränderung! Auch wenn dies furchtbarer Schmerz bedeuten sollte, so wünschten sie ihn; denn alles, was ihr Leben ausgemacht hat, war leer, flach, stinkig, träge, faulig und ohne Geschmack. Streck die Nase in die Luft, und was riechst du? Nichts. Ganz Arras war eine einzige große, in die Luft gestreckte Nase. Sie starben sogar ohne Furcht und Bedauern – so klein und nichtig waren sie. Ach, wenn du glaubst, daß ich diese Menschen zu Engeln machen wollte, irrst du dich gewaltig. Ich wollte bloß, daß sie menschlicher würden, als sie es bisher gewesen sind. Jean, mein Sohn, sag mir! Wann kann man die Süßigkeit der Tugend erfahren? Dann, wenn man der Sünden Bitternis gekostet hat. Wann kann man wirklich begreifen, was Friede heißt? Wenn man weiß, was Unruhe und Furcht bedeuten! Wann kann man nach Gott verlangen? Dann, wenn man das Teuflische durchlebt hat! Wann kann man Gefallen finden am einfachen Leben? Wenn es den Tod gestreift hat. Wann vermag man Speise, Kleidung, Reitpferde, das Euter einer Kuh, die Schönheiten eines Gewebes, die Berührung feiner Serge richtig zu schätzen? Wenn man Tag und Nacht in Verzweiflung, Schmerz und höchster Sorge gebrannt hat! Wann endlich weiß man die Dauerhaftigkeit gewisser Werte anzuerkennen? Wenn man bis auf den Grund gesunken ist, dorthin, wo nichts mehr beständig und von Wert ist… So, auf diese Weise, führe ich die Stadt zu wirklicher Freiheit…«
Er verstummte. Ich aber sah ihn an und dachte: Er ist wahnsinnig geworden. Doch Albert erriet meine Gedanken.
»Du glaubst, ich bin verrückt, was? Na, dann zeig mir einen anderen, besseren, menschenwürdigeren Weg. Seit die Welt besteht, leiden die Menschen unaussprechlich. Propheten kommen zu ihnen und sagen: ›Folget mir nach, ich bin’s, der euch ins Paradies führen wird!‹ Und die Menschen gehen, weil der Mensch nichts so sehr wünscht wie zu gehen… Es ist durchaus nicht wichtig, wohin, sondern nur, daß er sich bewegt. Mein Schüler, hab Vertrauen zu mir! Nichts Schwierigeres gibt es, als Gott für sich zu gewinnen! Ihm nach folgen die Menschen seit undenklichen Zeiten, immer voran, durch Berge von Leichen und Verwundeten hindurch, im Getöse des Schlachtengetümmels, inmitten von Gemetzel, Mord und Brandschatzung. Ach, wie unermüdlich jagen sie dieser großen Sehnsucht nach. Und schlecht handelte der, der sie zurückzuhalten suchte. Denn unsere Bestimmung ist es – zu gehen.
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