Eine Messe für die Stadt Arras
haben. Er schaut mich an und schweigt. Wie immer. Und ich habe dieses Kind so sehr geliebt… Es stand mir näher als alle anderen Menschen – durch seine Anmut, Vertrauensseligkeit und Demut. Der arme Saint Orner starb, und wir begruben ihn in Gent, wie sich’s gebührt. Damals habe ich geweint. Doch wenn du meinst, daß ich gebetet hätte, irrst du dich. Gott hört schon seit langem meine Gebete nicht mehr, und ich will auch keine Zeit vergeuden. Der Herrgott und ich – wir befinden uns beide in großer Disharmonie miteinander; denn er zweifelt an mir, und ich zweifle an ihm. Und irgendwie kommen wir auch ohne inbrünstige Liebe zurecht. Damals, als Saint Orner starb, dachte ich nicht zum erstenmal, daß alle Auflehnung, alles Fluchen, aller Glaube, alles Flehen und Lästern nichts nützt. Es kommt eben die Stunde, und da heißt es: marsch! Für niemanden gab’s, gibt’s und wird es ein Pardon geben! Nicht genug, daß wir selber abtreten, Gott zwingt uns auch noch, von denen Abschied zu nehmen, die wir lieben. Bei dem Gedanken an eine solche Grausamkeit stehen einem die Haare zu Berge. Zuerst schenkt man uns das Leben, dann nimmt man’s uns wieder. Zuerst führt man uns in Versuchung, dann stürzt man uns in die schwärzeste Verzweiflung. Was auch der Mensch anrührt – alles stirbt. Kein Wunder also, daß er Trost sucht. Einmal hier, einmal dort, nur um an etwas zu glauben, nur um den Tod wegzujagen, ihn zu überlisten. Wenn es uns schlecht geht, sagen wir, daß das nun einmal himmlischer Wille sei. Wenn wir Böses tun, sagen wir, daß Gott uns befohlen habe, auf eben diese Weise um das Heil zu kämpfen. Allein mit uns selber, wissen wir nicht auszuhalten, und stets bedürfen wir etwas außer uns selber, verlangen nach einer Macht, die nicht die unsrige ist und Herz und Hirn anzieht, sie gefangennimmt, berückt, sie zu Brei quetscht, wie ein beschuhter Fuß ein Korn zertritt. Erst dann glauben wir, vom Tod gerettet, glauben wir frei zu sein und ohne Angst leben zu können. Aber das ist alles nicht wahr, lieber Jean! Denn da kommt der Tag, dieser grausamste und allein wichtige Tag, da es gehen heißt! Alles verwandelt sich dann in einen Haufen Mist, weil nichts den Sensenmann aufzuhalten vermag, wenn er an unsere Tür klopft. Und schon gibt es weder Gott noch den Teufel an unserer Seite! Nur wir sind noch da, angstgepeinigt, unglückselige Scherben, Ratten, Fliegen oder auch nur irgendwelche Kleinstlebewesen, so winzig, daß das bloße Auge ihrer nicht gewahr wird. – Als der junge Saint Orner starb, fragte ich mich: Wo leuchten jetzt die Sterne dieses Kindes? Jawohl, erloschen sind sie auf immer. Er hatte andere Sterne als ich, auch wenn die Sterne an sich immer dieselben sind. Seine Sonne scheint nicht mehr, seine Winde wehen nicht mehr über die Erde, sein Regen fällt nicht mehr auf die Felder herab. Seine Bäume rauschen nicht mehr. Alles ist dahin, zusammen mit Gott, an den er geglaubt, den er geliebt und gefürchtet hat. Ich aber blieb zurück mit meiner Sonne, meinem Wind, Regen, Baum. Was aber Gott angeht – den gibt es nicht mehr. Wenn ich fort ins Dunkel muß, soll er mir doch vorangehen und dort auf mich warten… Vielleicht hat er nicht umsonst gewartet… Wozu soll ich mich mit Warterei abhärmen und wozu immerfort Abschied nehmen von allem, was da vor meinen Augen stirbt… Der Rat der Stadt hat sich eingebildet, daß, wenn man hier so inbrünstig wie nur irgend möglich an Gott und die Lehren des ehrwürdigen Albert vom ewigen Heil glaubt, Friede und Freiheit in diesen Mauern Wohnung nehmen. Ach, mein lieber Jean, warum hatten sie es so eilig, um zu Freude und Glück zu gelangen? Ist es nicht besser, ruhig bei den Tafelgenüssen und Falkenjagden zu verweilen und in sich hineinzulauschen, wie sich allmählich kühle Gleichgültigkeit gegenüber der ganzen Welt ins Herz stiehlt? Wer den Tag nicht begrüßt, muß nicht Abschied von ihm nehmen. Wer sich nicht des Sonnenaufgangs freut, muß sich nicht betrüben, wenn sie untergeht. Wer nicht liebt, ist frei von Verzweiflung. Wer nicht nach dem Heil verlangt, fürchtet auch die Hölle nicht! Weltverbesserung, Jean? Selbst wenn sie erreichbar wäre, dann nur in uns selbst und nicht außerhalb von uns. Die Männer vom Rat haben sich schwer geirrt. Aber ich werde nicht ihr Richter sein. Ich bin allzu müde, um fremde Sünden gerichtlich zu verfolgen. Was schon – wenn sie so dürsten, sollen sie doch ihren Durst stillen! Es war nicht mein Karren,
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