Eine Messe für die Stadt Arras
lustig zu sein. Auf dem Hof standen die Männer vom Rat. Es waren Pierre de Moyes, der Lahme Thomas, der Tuchmacher Yvonnet und noch fünf andere; nur sie waren noch am Leben geblieben. Ich sah sie deutlich, im Licht der Kienspäne, die rings um den Hof herum auf knorrigen Stangen steckten.
Lange schaute David auf die Männer herab. Sein Blick war trübe, und ich hörte seinen Atem; er ging flach, als liege ihm ein Stein auf der Brust. Chastell, der neben mir stand, flüsterte mir zu: »Eine schlimme Nacht, Jean!« Das wußte ich auch ohne ihn.
Die Zeit zog sich in die Länge, tropfte rhythmisch in das allgemeine Schweigen. Dort, wo getafelt wurde, war es ruhig geworden, weil man an den Tafeln hören wollte, was der Fürst zu dem Rat sprach. Nur von den vielen menschlichen Atemzügen schwoll die Luft an. Ein leichter Frost hatte eingesetzt, und wir alle waren in zarten Nebeldunst gehüllt. Auf dem Dachfirst sah ich Rauhreif schimmern.
Da endlich sprach der Bischof von Utrecht:
»Wieviel Leiden kann in den Mauern dieser Stadt Platz finden und wieviel in den Herzen seiner Bürger? Ich weiß es nicht, denn ich bin keiner von euch. Ich fühle nur ein großes Bedauern ob des Unglücks, das auf meine Stadt Arras gefallen ist. Aber ich weiß, daß das Unglück eher aus Dummheit als aus Herzensbosheit entstand. Es gibt hier Dumme, Dümmere und ganz Dumme. Ihr, die ihr im Rat gesessen habt, gehört zu den letzteren, weil ihr es nicht vermocht habt, eurem Verstand zu vertrauen, und die menschliche Vernunft mit Füßen getreten habt. Aber für Gott geschieht solches nicht zum ersten Mal auf der Welt. Und auch nicht zum letzten Mal… Darum sage ich euch nur das eine: Geht aus dieser Stadt auf immer, und nehmt eure Weiber, Kinder, euer Vieh und alle Habe mit! Und möge Gott euch auf den Pfad der Einsicht führen! Denn noch einmal wiederhole ich, was ich heute mittag gesagt habe: Was geschehen ist, ist nicht geschehen, und was gewesen ist, ist nicht gewesen! Vertraut auf euch selber, sündigt mit Maßen, und betet für die Errettung eurer Seelen!«
Und er schlug über dem Rat das Zeichen des Kreuzes, darauf kehrte er müden Schritts in den Saal zurück. Jene blieben – wie vom Donner gerührt – auf dem Platz zurück.
Verborgen im Schatten sah ich lange zu ihnen hinunter. Sie sanken nicht auf die Knie, um Gott für diese wunderbare Errettung zu danken. Sie verließen den Hof in völligem Schweigen, jeder für sich, so, als würde einer vom andern durch die Gedanken und Taten, die sie gemeinsam gedacht und unternommen hatten, getrennt, und jeder ging in die eigene Richtung davon. Ich aber fand mich wieder an der Tafel ein.
Und eben da brach in mir ein so unbeschreiblicher Jammer los, eine so furchtbare Bitterkeit und Mutlosigkeit, daß ich hätte schreien und heulen mögen aus Verzweiflung über diese Stadt, über mich selbst, über die ganze Welt. Schwer sank ich auf meinem Sitz neben dem Fürsten nieder und starrte auf die Wand. Chastell sprach zu mir, aber ich hörte nicht, was er sagte. Erst als der Fürst meine Hand faßte, hauchte ich:
»Euer Herrlichkeit, das ist alles so schrecklich…«
»Du hast recht, Jean«, erwiderte der Bischof, »aber man muß sich mit jedem Los abfinden, das uns auferlegt wird. Ich habe dem Rat Barmherzigkeit erwiesen…«
»Aber das ist ja gerade das Furchtbare!« unterbrach ich ihn so heftig, wie ich es einem solch großen Herrn gegenüber noch niemals getan hatte.
»Furchtbar?« fragte David verblüfft. »Irgend etwas hat sich dir im Kopf verwirrt. Ich behaupte nämlich, daß das einzig Furchtbare der Tod eines Menschen ist; nicht der eigene Tod, sondern der eines anderen Menschen. Weißt du, wie ich die letzten Wochen, da du dich mit Albert abmühtest, verbracht habe? Ich werd’s dir sagen. Man hatte mich ans Krankenbett des Chevalier Saint Orner, meines Neffen, gerufen. Ein Kind noch beinah. Er starb lange und geduldig. In einer stickigen Stube, unter Gebetsgemurmel eines Mönches, der Tag und Nacht bei ihm wachte. ›Mein Fürst‹, sagt zu mir dieser Knabe mit dem unschuldigen, lebenshungrigen Gesicht, ›ich will noch nicht sterben. Sag Gott, er solle mir noch etwas Zeit schenken, und ich werde musterhaft leben und fünf Dukaten für eine Kapelle stiften.‹ Was konnte ich ihm antworten? Daß Gott solche Bitten nicht erhört? – Vom Krankenzimmer aus ging ich direkt in die Kirche. Ich kniete nieder und redete dem Gekreuzigten zu, er möge doch ein klein bißchen Mitleid
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