Eine Nacht wie Samt und Seide
die Einfahrt von Carisbrook House abzubiegen. Wenigstens hatte sie aufgehört so zu tun, als suchte sie gar nicht nach einem Iren. Er hatte den Bruder geraten, doch das hatte sie abgestritten. Wenn nicht Bruder, dann ... Liebhaber?
Der Gedanke gefiel ihm nicht, er zwang sich aber, ihn kritisch zu betrachten. Sie war von vornehmer Herkunft, dessen war er sich sicher, aber sie wäre nicht die erste Tochter eines Gentlemans, die ihr Herz an einen charismatischen Pferdenarren verlor. Dagegen sprach allerdings die Anwesenheit ihrer Tante. Lady Fowles gehörte schlicht zu einem Typ Dame, der ihm zu vertraut war, als dass er geglaubt hätte, sie könnte Pris dabei unterstützen, einem liederlichen oder einfach schlicht unpassenden Liebhaber nachzujagen.
Alles lief auf »Bruder« hinaus.
Oder Cousin. Flick hatte schließlich auch zu ihm gehalten, hatte, um ihm zu helfen, Sachen getan, die ihm jetzt noch Alpträume bescherten.
»Ich war früher selbst einmal in einen Rennbetrug verwickelt.«
Ihr Kopf fuhr so schwungvoll herum, dass ihre Locken flogen. »Was?«
Er erwiderte ihren verblüfften Blick, dann schaute er sich um, zügelte die Pferde. Die Auffahrt war lang, und sie hatten erst die Hälfte der Strecke zum Haus zurückgelegt. Wenn er ihr das erzählen wollte, um ihr Vertrauen zu gewinnen, dann brauchte er einen Ort, wo sie ungestört reden konnten. Wenn er sich recht entsann ...
Er entdeckte den Pfad ein Stück weiter, beinahe mit Gras überwachsen. Er lenkte die Pferde dorthin.
»Wohin ...?« Sie spähte voraus, über den Rasen zu der Baumreihe, die ihren Weg kreuzte.
»Warten Sie.«
Er führte das Gespann zwischen den Bäumen hindurch und fuhr zum Sommerhaus, das am Ende des langgestreckten künstlich angelegten Sees im Park lag.
Er hielt an und stieg aus, band die Zügel so, dass die Pferde grasen konnten. Der Zweispänner ruckte, als auch Pris vom Kutschbock kletterte; dabei erblickte er einen schlanken Knöchel inmitten von bauschigen Röcken.
Mit verwunderter, aber auch neugieriger Miene kam sie zu ihm. »Was haben Sie gesagt?«
Er deutete auf das Sommerhaus. »Lassen Sie uns hineingehen.«
Sie ging voraus. Das Sommerhaus, aus weiß gestrichenem Holz errichtet, war schlicht eingerichtet mit einem Korbsofa und einem passenden Lehnstuhl, beide weich gepolstert und so aufgestellt, dass man von ihnen aus den Blick über den See bis zu dem ein Stück entfernten Herrenhaus schweifen lassen konnte.
Pris setzte sich auf die Ecke des Sofas. Ihr Interesse war geweckt, mehr noch, sie war gefesselt. Vor allem interessierte sie, warum er das Thema freiwillig angeschnitten hatte.
Doch dazu musste sie sein Gesicht sehen, sodass ihr die Sicherheit des Sitzplatzes auf dem Lehnstuhl verwehrt blieb. Draußen spendete der Mond sein Perlmuttlicht, im Sommerhaus war es deutlich dunkler. Auf ihr Winken hin setzte er sich neben sie. Sie musterte seine Züge; sie konnte sein Gesicht ausmachen, aber nicht den Ausdruck in seinen Augen erkennen.
»Das kann ich nicht glauben - Sie, der Hüter des Abstammungsregisters - waren in irgendetwas Verbotenes verwickelt? Doch wohl nicht im Zusammenhang mit Pferderennen?«
Er schaute ihr in die Augen. Nach einem Augenblick fragte er: »Nein?«
Es war, als legte er absichtlich seine glänzende Rüstung ab, sodass sie mit einem Mal den wahren Mann ohne Schutzschild dahinter sehen konnte. Sie betrachtete ihn eindringlich. Nach und nach kam ihr die Erkenntnis.
Sie atmete aus, zog die Beine an und setzte sich so, dass sie ihm direkt ins Gesicht sehen konnte. »Gut. Vielleicht kann ich es mir doch vorstellen. Sie waren ungestüm, wild und jung und ...«
»Nicht nur ungestüm und wild, sondern waghalsig und rücksichtslos.« Er machte eine Pause, wendete aber nicht den Blick von ihr. Nach einem Augenblick erkundigte er sich: »Das muss ich wohl gewesen sein, nicht wahr?«
Sie antwortete nicht.
Ein bedeutungsschwangerer Moment verstrich, dann schaute er wieder nach vorne, lehnte sich mit den Schultern gegen die Sofalehne, streckte die Beine aus, überkreuzte sie an den Knöcheln und schob seine Hände in die Hosentaschen. Er blickte über die glatte Seeoberfläche zu dem hellen Fleck in der Dunkelheit, als der Carisbrook House im Moment zu sehen war. Seine Lippen kräuselten sich, nicht zynisch, sondern selbstverächtlich.
»Ungestüm, wild und waghalsig und zu jedem üblen Streich aufgelegt.« Sein Tonfall verriet, dass er sein früheres Ich mit Abstand betrachtete - es war lange her.
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