Eine Rose im Winter
nicht wohlwollend aufnehmen.
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Über sein eigenes Tun nachzudenken, kann manchmal eine quälende Erfahrung bedeuten; besonders dann, wenn das Getane oder Unterlassene schwerwiegende Folgen haben kann. Erienne setzte in ihren Vater kein Vertrauen, und wenn er die interessanten Neuigkeiten dem Sheriff ausplauderte, konnte das für den von ihr geliebten Mann verhängnisvolle Folgen haben. Sie machte sich Sorgen, daß sie seine Bitte zu vorschnell abgelehnt hatte. Bekanntlich konnte man mit einem fetten Bissen einen winselnden Hund beruhigen.
Erienne faßte einen Entschluß. Sie legte ein Kleid aus schillernder blauer Seide an, dessen Mieder vorn mit vielen kleinen Knöpfen vom hohen Kragen bis zur betonten Taille zu schließen war. Sie gab Anweisungen, den Wagen vorfahren zu lassen, und ging dann in das Zimmer ihres Mannes, um ihn von ihrem beabsichtigten Verwandtenbesuch zu unterrichten. Christopher war mit den Rechnungsbüchern des Pachtbesitzes beschäftigt, die er bereitwillig zur Seite schob, um sie mit einem langen glühenden Kuß daran zu erinnern, daß er ihrer Rückkehr entgegenfiebern würde. Sie kicherte, als er ihr ein anzügliches Versprechen ins Ohr flüsterte, entwand sich mit einem Seufzer seinen Armen und warf ihm noch eine Kusshand zu, als sie zur Tür ging. Mit Vergnügen beobachtete er, wie das gepolsterte Hinterteil ihres Kleides hin und her schwang, bis sie hinter der Tür verschwunden war. Zu den trockenen, langweiligen Zahlen auf dem Pergament zurückkehren zu müssen, war weit weniger erquicklich.
Der Frühling hatte auch den Norden mit frischen Farben überzogen. Die Hügel waren grüner, der Himmel blauer, und die Flüsse und dahinplätschernden Bäche flossen klarer in ihren steinigen Betten. Ein frischer Wind trieb weiße Wattewolken vor sich her und zauste das neu gewachsene kurze Gras. Es war ein schöner Tag, um ins Freie hinauszufahren, und während sie nach Süden rollte, hoffte Erienne, daß ihr der Tag nicht durch den Besuch im Dorfe verdorben würde.
Die Sorgen, die sie sich gemacht hatte, seit der Abreise ihres Vaters vor einer Woche von Saxton Hall, erschienen ihr weniger bedrückend, als Mawbry in Sicht kam. Die Räder des Fahrzeugs ratterten über die Brücke, und Tanner hielt vor dem bekannten Haus. Der Bedienstete sprang herunter, öffnete eilends die Tür und stellte für die Herrin einen Tritt hin.
Seit ihrem Auszug hatte Erienne das Haus so in Gedanken behalten, wie sie es verlassen hatte. Obwohl seitdem nur einige wenige Monate vergangen waren, schien ihr der Anblick jetzt fremd. Niemand hatte daran gedacht, im Frühling den Vorgarten zu bestellen, und die verdörrten Stengel der Blüten vom vergangenen Jahr gaben traurige Kunde von vergangener Schönheit.
Erienne bat Tanner zu warten und ging, während sie die Kapuze ihres Mantels zurückstreifte, auf die Tür zu. Kurz ehe sie klopfte, hielt sie an der Schwelle inne und dachte an den erregenden Augenblick, an dem Christopher zum ersten Mal gekommen war. Und ihr Herz hatte wie wild geschlagen in der Hoffnung, daß sie es sein würde, auf die seine Wahl fiele. Sie lächelte bei der Erinnerung an damals. Verglichen mit den Männern, die ihr Vater ihr vorgeführt hatte, war er wie ein makelloser Ritter erschienen.
Nach ihrem leichten Pochen hörte sie Schritte, die sich zur Tür hin bewegten. Sie ging auf und gab den Blick auf Averys zerknitterte Gestalt frei. Das lange Ende eines Nachthemdes war nachlässig in ein Paar weite Kniehosen gestopft, die an zerrissenen Hosenträgern hingen. Allem entströmte ein säuerlicher Geruch von Schweiß und Ale. Ein überraschter Ausdruck überzog sein Gesicht, als er sie erblickte. Dann legte sich ein fast listiges Lächeln auf seine Lippen.
»Lady Saxton!« Er trat zurück und bat sie mit einer übertrieben höflichen Geste herein. »Möchten Sie nicht in meine bescheidene Behausung eintreten?«
Erienne warf einen kurzen Blick auf das Durcheinander im Inneren, als sie eintrat. Jeder konnte sehen, daß ihrem Vater jegliche Ordnung im Haus gleichgültig war.
»Willst du mich sehen, oder gilt dein Besuch Farrell? Der Junge ist nach York, und der Himmel mag wissen, wann er wiederkommt.«
»Ich bin Ihretwegen hergekommen, Vater.«
»Oh?« Avery schloß die Tür, wandte sich dann um und starrte sie an, als ob er diese Antwort am wenigsten erwartet hätte.
»Ich habe noch einmal darüber nachgedacht, was wir besprochen haben.« Es war ihr nicht zum Lächeln
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