Eine Rose im Winter
betrachtete die jüngere Frau für eine Weile und konnte schon an ihrem qualvollen Gesichtsausdruck ablesen, was für Kämpfe in ihrem inneren vor sich gehen mußten. Wenngleich sie Mitleid mit dem Mädchen hatte, war sie auch ihrem Herrn verpflichtet. In der Hoffnung, ihrer neuen Herrin einen kleinen Teil des Unglücks zu vermitteln, das über die Familie der Saxtons hereingebrochen war, sprach Aggie, ganz gegen ihre sonst so übersprudelnde Art, sehr ruhig.
»Ich kenne den Herrn gut genug, um zu verstehen, warum er die Dinge auf diese Weise anpackt, M'am. Seine Familie hat durch die Hände von Mördern und solchen Leuten, die sich als höchste Autorität betrachten, viel zu erleiden gehabt. Der alte Lord wurde mitten in der Nacht von einer Bande von Halsabschneidern überwältigt und vor den Augen seiner Familie niedergemacht. Mary Saxton fürchtete, daß man auch noch den Rest der Familie umbringen würde und ist deshalb mit ihren Kindern geflohen. Vor ungefähr drei Jahren kam ihr ältester Sohn, um seine Ansprüche auf den Titel und das Land geltend zu machen.« Aggie neigte ihren Kopf in östliche Richtung. »Sie hab'n die verkohlten Ruinen des neueren Flügels gesehen. Einige behaupten, daß er absichtlich von denen in Brand gesteckt wurde, die auch den alten Lord getötet haben. Und sie taten es genau zu einer Zeit, als er von seinem Sohn bewohnt wurde …«
»Die Verbrennungen, die er erwähnte …«, entfuhr es Erienne, »war er in den Flammen eingeschlossen?«
Aggie wandte sich ab und starrte nachdenklich in den Kamin und beobachtete die wechselnden Farben der Flammen. »Mein Herr hat selbst sehr viel erleiden müssen, doch er hat mich angewiesen, Ihnen nichts drüber zu erzähl'n. Ich hab' nur gedacht, Sie würd'n dann nicht mehr so große Angst hab'n, wirklich.«
Eriennes Schultern sackten zusammen. Enttäuschungen und ein überwältigendes Gefühl der Müdigkeit hatten an ihren Kräften gezehrt. Die Ereignisse des Tages hatten geistig und körperlich ihren Tribut gefordert, und der Bericht der Haushälterin hatte ihre schlimmen Vorahnungen nur verstärkt. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Aggie«, sagte sie mit leiser Stimme, »würde ich jetzt sehr gern eine Weile für mich allein bleiben.«
Voller Verständnis für ihre Situation bot ihr die Frau an: »Soll ich Ihn'n das Bett richten, so daß Sie etwas ruhn können, M'am? Oder soll ich vielleicht einige Kleider für Sie rauslegen?«
Erienne schüttelte den Kopf. »Nicht jetzt. Später.«
Aggie nickte und ging zur Tür. Dort wartete sie mit der Hand am Türgriff, bis Erienne aufsah, ob sie noch etwas brauchen würde. »M'am, eigentlich geht's mich nichts an«, begann sie zögernd, »aber wenn Sie nur 'n bißchen Vertrau'n haben könnten, Lord Saxton ist … Na ja, hab' ja schon gesagt, daß ich über ihn nichts weiter sagen soll, aber das eine will ich Ihn'n anvertrau'n: Wenn Sie ihn mal richtig kenn'nlernen, wer'n Sie überrascht sein, über den Mann, den Sie unter sein' Kleidern finden. Und wenn Sie mir vertrauen woll'n, M'am, ich glaub', Sie wer'n nich' im geringsten enttäuscht sein. Und schönen Dank auch, M'am.«
Bevor Erienne Gelegenheit hatte, noch Fragen zu stellen, schlüpfte die Frau durch die Tür und schloß sie hinter sich. Zum ersten Mal allein, seit sie das Haus ihres Vaters verlassen hatte, stand Erienne in der Mitte des Zimmers und starrte teilnahmslos vor sich hin. Braut von Saxton Hall, dachte sie verdrossen. Herrin in einem Hause, das sich vor ihren Augen wie ein Chamäleon verwandelte. Ihr Gesicht verzog sich zu einem schiefen Lächeln. Wenn dies nur auch mit ihrem Mann geschehen könnte, daß er sich unter seinem strengen Gewand als ein annehmbarer Ehepartner erweisen würde.
Erienne wies diesen Gedanken weit von sich und schalt sich selbst, solchen törichten Träumen nachzuhängen. Sie mußte mit der Wirklichkeit leben. Und das hieß, mit Lord Saxton verheiratet zu sein, so wie er war. Es gab jetzt kein Zurück mehr.
***
Es dauerte länger als eine Stunde, bis Erienne ihre Niedergeschlagenheit soweit überwunden hatte, um sich die Kleider im Schrank anzusehen. Doch all der weiche Samt und die feinen Leinenstoffe konnten sie nicht von ihrer Überzeugung abbringen, daß die Dinge auf ein unglückliches Ende zusteuerten. Sie schaute mit düsterem Blick auf die Kleider, die Lord Saxton für sie gekauft hatte. Es gab nichts, was sie daran auszusetzen gehabt hätte, doch sie konnte sich auch nicht über den Besitz
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