Eine skandalöse Braut
»Ich … es tut mir leid«, flüsterte sie gedemütigt. »Ich wollte nicht … ach …«
»Tut einfach so, als wäre nichts passiert.« Seine Schultern hoben sich zu einem leichten Schulterzucken. »Wir tanzen, mehr nicht. Das ist absolut vertretbar.«
Vertretbar, ja. Nur dass sie jetzt das unangenehme Gefühl hatte, ein Großteil der Londoner Gesellschaft wisse nun, dass sie einander besser kannten und dieser Tanz nicht ihr erster Kontakt war.
Diese Vermutung wurde bestätigt, als die Musik verstummte und der Tanz zu Ende war. Sie drehte sich um und sah ihren Vater am Rand der Menschenmenge. Auf seinem Gesicht lag ein finsterer, missbilligender Ausdruck.
»Gewöhnlich spricht er kaum mit mir.« Amelia gab ein kleines, freudloses Lachen von sich. So leise, dass nur Alex sie verstand, sagte sie: »Warum habe ich wohl jetzt das Gefühl, er könnte mit mir reden wollen?«
»Vielleicht will er auch mit mir reden«, sagte Alex. Er ließ ihre Hand los. »Wie auch immer … Sehe ich Euch morgen früh bei Sonnenaufgang?«
»Ich hoffe es.«
Der Himmel stehe ihr bei, sie meinte diese Worte absolut ernst.
Sie war eine Idiotin.
Eine Närrin.
Aber sie hatte sich unsterblich in Alex St. James verliebt.
Die Kutsche schwankte, und das Rattern der Räder klang besonders laut, weil es im Innern so still war.
Verflixt noch mal, dachte Sophia. Sie betrachtete das abgewandte Profil ihrer Nichte. Ihr war nun klar, es musste in dieser Sache etwas unternommen werden. Wenigstens hatte Amelias Vater auf dem Ball keine Szene gemacht und seiner Tochter gestattet, den Abend weiter zu genießen, als sei nichts geschehen. Aber es gab zweifellos keinen Gast, der nicht Lord Hathaways Reaktion darauf mitbekommen hatte, dass seine Tochter in Alex St. James’ Armen über das Parkett schwebte. Sophia hatte sich erboten, ihre Nichte heimzubringen, und er war in seinen Klub gegangen. Das war eine gute Entscheidung.
Wäre da bloß nicht der verdammte Moment, in dem Amelia in Gegenwart der wichtigsten Leute ihrer Kreise die Hand hob und die Locke aus dem Gesicht ihres Tanzpartners strich. Dabei ging es nicht bloß um diese Geste, sondern auch um den Ausdruck auf ihrem Gesicht, der wenig Platz für Spekulationen ließ, welche Gefühle sie für ihn hegte …
Vielleicht war es an der Zeit, sich der Wahrheit zu stellen. Nicht mit der winzigen Hoffnung, das alles könne sich noch verflüchtigen, sondern mit einem eher praktischen Denkansatz. »Also«, sagte Sophia schroff. »Wie oft habt ihr zwei euch inzwischen getroffen?«
Amelia, die sich einen silbernen Schal um die bloßen Schultern und das schimmernd grüne Abendkleid aus Seide gelegt hatte, blickte auf. Es war, als bemerkte sie erst jetzt, dass sie nicht allein war. »Wie bitte?«
»Du und Lord Alexander? Wie oft habt ihr euch getroffen? Ich wüsste auch gerne, wo. Es ist dir schließlich verboten, ohne deine Anstandsdame irgendwo hinzugehen.«
»Wieso glaubst du, wir haben uns getroffen?«
»Zum Ersten habe ich euch tanzen sehen.«
»Ich habe doch nur seine Wange berührt.« Amelias Gesicht hatte eine rosige Farbe angenommen.
»Ich glaube, wenn man eine Umfrage bei all jenen interessierten Beobachtern macht, wie sie die Berührung interpretieren würden, käme keiner auf die Idee, sie als unverfänglich zu bezeichnen.« Sophia blickte ihre Nichte fragend an. »Erzähl schon: Wo triffst du ihn?«
»Im Park, wenn ich morgens ausreite. Es sind ganz unschuldige Begegnungen.« Amelia straffte sich ein wenig, aber sie wich nicht länger aus. »Ich nehme immer einen Stallburschen mit.«
Wenigstens leugnete sie es nicht. Unschuldig war aber kaum der richtige Begriff, um Alex St. James zu beschreiben. »Er muss es wirklich auf dich abgesehen haben, wenn er so früh aufsteht.« Sophia gab sich alle Mühe, möglichst prüde und missbilligend zu klingen. Aber in Wahrheit berührte es sie, was er tat. Sie war erleichtert, weil dieser Wüstling nicht versuchte, Amelia in ein geschmackloses Gasthaus zu locken oder sie zu einem anderweitig skandalösen Verhalten zu drängen. Richard schien auch zu denken, dass St. James allen Gerüchten zum Trotz ein netter junger Mann war. Das sprach für ihn.
»Heute Abend habe ich ihn gefragt, ob er mit mir tanzt, Tante Sophia.«
»Nachdem er dich demonstrativ von der Tanzfläche weggeführt hat. Da machte er schon einen recht besitzergreifenden Eindruck. Wir müssen den Tatsachen ins Auge sehen, mein Kind: Heute Abend war keiner von euch beiden besonders
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