Eine unerwartete Erbschaft (German Edition)
Klicken, noch bevor ich das Metall aufblitzen sah. Christina trat einen Schritt zurück – sie war ebenso schockiert über das Springmesser in Huberts Hand wie ich. Er hielt es vor sich wie ein Schwert – was vollkommen falsch war, wie ich zufällig wusste, weil ich West Side Story gesehen hatte. Springmesser müssen direkt auf eine Person gerichtet sein, als wollte man seine Initialen in ihre Eingeweide ritzen. Christina und ihren Freundinnen schien das nicht weiter aufzufallen. Eines der Mädchen schrie auf.
Doch Christina erholte sich schnell wieder. Sie zuckte mit den Schultern und sagte: »Na, dann kommt mal, Mädchen, wir gehen.« Sie zeigte auf mich, als würde sie mit einer Pistole zielen. »Für die ist unsere Zeit zu schade.« Sobald sie um die Ecke verschwunden waren, seufzte ich erleichtert auf. Hubert ließ sein Messer wieder zuschnellen und bot an, mich nach Hause zu begleiten. Auf dem Weg erzählte er mir die Geschichte des Springmessers. Im Sommer hatte er den Rasen eines Nachbarn gemäht, aus reiner Gefälligkeit, und der alte Mann hatte ihm dafür eine alte Werkzeugkiste mit allen möglichen Sachen geschenkt. Das Springmesser hatte zwischen den Schraubenschlüsseln und Zangen gelegen und Hubert trug es gerne mit sich herum. »Aber ich hätte nie gedacht, dass ich es mal benutzen würde, um jemandem das Leben zu retten«, sagte er. »Das war wirklich cool.« Er klang so stolz, dass ich mir die Bemerkung verkniff, dass es sich ja
nur um eine Gruppe von Mädchen gehandelt hatte. Und dass er es eigentlich gar nicht benutzt hatte.
Danach brachte Hubert mich jeden Tag nach Hause. Irgendwann fanden Christina und ihre Bande ein neues Opfer, einen Jungen, der lispelte. Sein Albtraum endete erst, als seine Mutter ihn nach der Schule immer abholte. Ich weiß nicht mehr, wen sie sich danach suchten, aber ich weiß, ich war es nicht.
Eine ganze Zeit lang hatte mich der Geruch fauliger Bananen immer an Springmesser und Huberts tapferes Eingreifen erinnert, aber jetzt hatte ich schon lange nicht mehr daran gedacht. Ich konnte mich noch deutlich an seinen Gesichtsausdruck erinnern, als er »Lasst sie in Ruhe!« sagte. Siebzehn Jahre waren seither vergangen und wir hatten vielleicht den einen oder anderen kleinen Streit gehabt, aber noch nie hatte ich Hubert richtig böse erlebt, schon gar nicht auf mich. Ich würde lügen, wenn ich sagte, dass es mich kalt ließ.
Während mir all das wieder einfiel, wälzte ich mich unter meiner Bettdecke hin und her und wartete, dass die Müdigkeit mich irgendwann in den Schlaf zog, doch das geschah nicht. Ich war hellwach.
Ich stand auf und tapste durch den dunklen Flur zu Huberts Zimmer. Die Tür war noch immer geschlossen. Leise klopfte ich an. »Hubert?« Dann noch einmal, lauter: »Hubert?« Keine Antwort. Ich überlegte, ob ich mich wieder ins Bett legen und am Morgen mit ihm reden sollte, aber wir mussten beide zur Arbeit, und außerdem war da diese blöde Geschichte, dass mein Auto noch beim Italiener stand. Aber viel schlimmer war, dass ich nicht schlafen konnte, solange Hubert böse auf mich war.
Ich öffnete die Tür und spähte ins Zimmer. Durch die Jalousien drangen schmale Lichtstreifen von der Straßenbeleuchtung ins Zimmer. Als meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte ich Huberts Umrisse auf dem Bett erkennen. Er lag auf dem Rücken, die Decke bis zum Kinn, wie eine Mumie in einem Sarkophag. Ich versuchte es erneut: »Hubert?«
»Ja, Lola.« Entnervt seufzte er auf.
Er war also doch wach – und immer noch böse auf mich. Ich setzte mich auf die Bettkante wie ein Elternteil, das eine Gutenachtgeschichte erzählen will. Seit drei Tagen wohnte er nun in meinem Haus und seine Bettwäsche roch immer noch nach Weichspüler. »Ich kann nicht schlafen. Ich ertrage es nicht, dass du sauer auf mich bist.«
Er sagte nichts, seufzte nur wieder und zog die Hände unter der Bettdecke hervor. Ich dachte, er würde mich berühren, doch er faltete die Hände nur wie zum Gebet. »Du hast keine Ahnung, was für Sorgen ich mir gemacht habe«, sagte er. »Ich bin fast wahnsinnig geworden bei der Vorstellung, dass dir etwas Schreckliches passiert sein könnte.«
»Ich weiß. Es tut mir leid.«
»Und dass du nach deiner Verabredung einfach so angetrunken ins Haus platzt, hat es nicht gerade besser gemacht. Als wäre dir ganz egal gewesen, wie es mir geht.«
»Es ist mir nicht egal. Ich habe nur ...«
»Ich könnte es nicht ertragen, wenn dir etwas
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