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Eines Tages geht der Rabbi

Eines Tages geht der Rabbi

Titel: Eines Tages geht der Rabbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Kemelman
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argwöhnisch.
    «Na ja, morgen sind doch die Vorwahlen, und in der Stadt sind zwei Wahlversammlungen, da hat Mr. Cronin gesagt, wir sollen hingehen, dann können wir in der Schule darüber reden.»
    «Daß die Wahl schon morgen ist, war mir gar nicht klar», sagte Rabbi Small. «Wo sind denn die Versammlungen?»
    «Eine große ist im Rathaus, und hinten an der Main Street haben sie ein Podium aufgestellt, da ist demnach auch was los.»
    «Ganz interessant», sagte der Rabbi. «Vielleicht komme ich mit.»
    «Ich auch», sagte Hepsibah.
    «Nein.» Die Ablehnung des Rabbi kam fast automatisch.
    «Nein», bestätigte Miriam. «Du hast noch Hausarbeiten und mußt früh ins Bett. Gestern ist es spät geworden.»
    «Nichts zu machen», bekräftigte Jonathan. «Diese Klette hätte mir gerade noch gefehlt.»
    Gegen halb acht verließen der Rabbi und Jonathan das Haus in der Maple Street.
    «Kann ich fahren?» fragte Jonathan. Der Rabbi gab ihm die Schlüssel und setzte sich auf den Beifahrersitz.
    «Am besten fährst du die Main Street hinunter bis zur Foster», meinte er. «Da finden wir bestimmt einen Parkplatz.»
    Sie parkten und gingen in Richtung Rathaus. Aber als ihr Ziel in Sicht kam, fragte Jonathan: «Willst du zum Rathaus, Dad? Ich wollte gern mal in die andere Sache reinhören. Wir können uns ja hinterher treffen.»
    Der Rabbi zögerte. Vermutlich hatte es sich in der Oberschule herumgesprochen, daß die Wahlversammlung unter freiem Himmel mehr Spaß versprach. «Na gut. Aber sobald dort Schluß ist, kommst du zum Rathaus, verstanden? Oder besser noch – wir treffen uns dort um zehn …»
    «Och, Dad …»
    «Na gut, um halb elf, aber nicht später.»
    Der Saal im Rathaus war fast bis auf den letzten Platz besetzt, es ging laut und undiszipliniert zu. Immer wieder standen Zuhörer auf, um mit Bekannten zu reden oder einfach nur, um sich die Beine zu vertreten. Unterhaltungen wurden ohne Rücksicht auf den jeweiligen Redner in normaler Lautstärke geführt, und die Redner ihrerseits ließen sich weder von dem Stimmengewirr im Saal noch von dem Lärm der hinter ihnen auf dem Podium Sitzenden beeindrucken. Einige Leute hatten Wahlplakate an langen Stangen mitgebracht und trommelten damit – ob zustimmend oder ablehnend, war schwer auszumachen – auf den Boden.
    «Wie die Nationalversammlung der Demokraten, was?» ließ sich eine Stimme hinter dem Rabbi vernehmen. Er wandte sich um. Es war Polizeichef Lanigan, ein Mann mit breiten Schultern, rundem roten Gesicht und weißem Haar, das so kurz geschoren war, daß die rosa Kopfhaut durchschimmerte. Er und der Rabbi kannten sich seit David Smalls Amtsantritt in Barnard’s Crossing, und sie waren gute Freunde geworden. Mehr als einmal hatte er dem Rabbi in Fragen, die der jüdischen Gemeinde am Herzen lagen, einen Tip geben können. Aber auch er hatte schon häufig den Rat des Rabbi in Anspruch genommen. «Sie hätte ich hier nicht erwartet, Rabbi», meinte der Polizeichef. «Andererseits – verständlich ist es schon, daß Sie sich die Sache mal anhören wollten.»
    «Ich bin mit Jonathan gekommen, er ist gerade auf der anderen Versammlung. Eine Hausaufgabe für Staatsbürgerkunde, sagt er. Erstaunlich, was heutzutage in der Oberschule alles aufs Tapet kommt. Ein schrecklicher Lärm, nicht?»
    «Ja, viel Lärm um nichts gewissermaßen. In meiner Jugend sind sie mit Fackeln durch die Straßen gezogen – mit diesen roten Dingern, wie man sie in Autozubehörläden kriegt. Die durften meist die Kinder tragen, und deshalb haben die Bälger überhaupt bei den Umzügen mitgemacht. Aber dann hat der Magistrat sie verboten, wegen der Feuergefahr, und da war natürlich Schluß mit den Umzügen – und mit dem Spaß. Nachdem die Feuerwerksknallerei am 4. Juli untersagt worden war, gab’s denselben Effekt.»
    «Aber die Leute scheinen sich trotzdem ganz gut zu amüsieren. Hört eigentlich überhaupt jemand den Rednern zu?»
    «Ach wo. Es ist einfach eine Chance, in letzter Minute noch ein bißchen Wahlkampf zu machen.»
    «Ja, aber –»
    «Von den Kandidaten wird erwartet, daß sie sich sehen lassen. Wer nicht kommt, bringt sich um seine Popularität. Wenn die Kandidaten für die Staatsämter sprechen, wird es meist ruhiger.»
    «Sie meinen, Constant und Belize kommen auch?»
    «Nein, hier wird ja sowieso hauptsächlich republikanisch gewählt, im westlichen Teil des Staates können sie sich nützlicher machen. Aber die Kandidaten für das Amt des stellvertretenden

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