Eines Tages geht der Rabbi
«Dann trinkst du noch einen heißen Tee mit Schuß, und morgen bist du wieder topfit.»
Auf der Heimfahrt kam Halperin an einer geschlossenen Apotheke vorbei, die ihn daran erinnerte, daß ihm die Schnupfentabletten ausgegangen waren. In Lynn gab es einen Drugstore, der abends lange geöffnet war. Es war zwar ein Umweg, aber die zusätzliche Viertelstunde würde sich lohnen.
Halperin ließ sich ein Glas Wasser geben, um gleich zwei Tabletten zu nehmen. «Fahren Sie heim, Mr. Halperin?» fragte der Drugstorebesitzer, der ihn kannte. «Ich meine, Sie wollen nicht noch weiter, nach Boston oder so?»
«Nein, ich fahre jetzt gleich nach Hause und leg mich ins Bett. Warum?»
«Weil die Tabletten Antihistamin enthalten, das macht unter Umständen müde.»
«Ach so. Nein, ich fahre sofort heim.»
Millie Hanson blickte von ihrem Romanheftchen hoch, als Tony D’Angelo zum Dielenschrank ging und sein Jackett vom Bügel nahm.
«Wohin willst du denn noch, Schatz?»
«Moos holen.»
«Bleibst du lange?»
Er zog die Jacke über. «Glaub ich nicht.»
Sie fragte lieber nicht weiter. Millie war zwar neugierig, hatte aber das Gefühl, daß es vermutlich für sie besser war, wenn sie über Dinge, zu denen Tony sich nicht äußern mochte, gar nichts wußte. Sie horchte auf das Schlagen der Wagentür und das Startgeräusch des Motors, dann rückte sie die Kissen zurecht, legte sich auf die Couch und war bald völlig von dem Schicksal der hübschen Krankenschwester Mary McTeague gefesselt, die sich rechtschaffen plagen muß, um es ihrer nörgelnden Patientin, der alten Lady Haversham, recht zu machen und gleichzeitig ihre Netze nach deren gutaussehendem Sohn, Lord Haversham, auszuwerfen.
Tony fuhr durch Revere und Lynn bis zu dem Schild «Sie befinden sich jetzt in Barnard’s Crossing». Dort nahm er Gas weg und fuhr so weit wie möglich nach rechts. Dann sah er das Straßenschild: Glen Lane. Die schmale Einmündung zwischen Büschen und Bäumen war in der Dunkelheit leicht zu übersehen. Er fuhr etwa 100 Meter die kurvenreiche Straße entlang und parkte in einer Schneise am Straßenrand. Er schaltete das Licht aus und wartete.
Die vorausgesagte Müdigkeit hatte sich bei Morris Halperin tatsächlich eingestellt. Immer wieder überholten ihn andere Wagen, und die Scheinwerfer entgegenkommender Fahrzeuge blendeten ihn. Ein paarmal war er wütend angehupt worden, weil er den Fuß vom Gaspedal genommen und unerwartet langsamer geworden oder vielleicht auch, weil er aus der Spur geraten war. Deshalb hatte er beschlossen, die Fernstraße zu verlassen und über die Glen Lane heimzufahren. Es war eine Abkürzung, und er hatte dort, was ihm noch wichtiger war, die Straße für sich.
Er schaltete das Fernlicht ein und fuhr gemächlich weiter. Plötzlich geriet er in ein Schlagloch, das Vorderende des Wagens federte nach oben, und es kam ihm vor, als habe er auf der Straße eine Gestalt liegen sehen. Er bremste scharf und hielt an. Dann kurbelte er das Fenster herunter und sah zurück. Tatsächlich, da lag jemand auf der Fahrbahn. Er stieg aus, kniete nieder und wußte nicht recht, was er jetzt tun sollte.
Leise, fast flüsternd sagte er: «Hey, alles in Ordnung?» Pause. «Hören Sie mich?»
Warum kommt denn niemand, dachte er. Einer von uns könnte dann bei dem armen Teufel bleiben und der andere die Polizei verständigen und Hilfe holen. Dabei war ihm im Grunde klar, daß er um diese Zeit mit so einem glücklichen Zufall kaum rechnen konnte. Nachts wurde die Glen Lane fast nie als Durchfahrtsstraße benutzt.
Er setzte sich wieder in den Wagen und fuhr bis zur Einmündung der Glen Lane in die Maple Street. Er hatte sich überlegt, ob er irgendwo klingeln, seine Lage schildern und von dort aus telefonieren sollte. Aber die Häuser schienen alle dunkel zu sein, nur hier und da drang unter den heruntergelassenen Rolläden in den Obergeschossen noch ein Lichtschein.
Nur in einem Haus, fast schon an der Main Street, waren noch alle Fenster hell. Es war Rabbi Smalls Haus, aber dort mochte er nicht klingeln. Er war – wohl wegen der Tabletten, vielleicht aber auch wegen des Whiskeys – nicht mehr ganz sicher auf den Beinen. Zwar hatte er nur ein Glas getrunken, und das schon vor etlichen Stunden, aber es war denkbar, daß der Alkohol die Wirkung der Tabletten verstärkt hatte. Und am Ende hielt ihn der Rabbi noch für betrunken.
Entschlossen setzte er seinen Weg die Maple Street entlang fort. Als er in die Main Street
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