Einfach göttlich
daß die Gewißheit fehlte. Er öffnete den Mund, ohne einen Ton hervorzubringen.
»Komm«, sagte Om so sanft wie möglich. »Kehren wir zurück.«
M itten in der Nacht erwachte Om und vernahm Geräusche, die von Bruthas Bett herkamen.
Der Novize betete wieder.
Der kleine Gott Om hörte neugierig zu. Er erinnerte sich an Gebete. Einst waren es viele gewesen. So viele, daß er sie gar nicht auseinanderhalten konnte und das auch nicht wollte. Es spielte auch keine Rolle: Wichtig war nur das gewaltige kosmische Gemurmel Tausender von betenden und glaubenden Seelen. Die Worte verdienten überhaupt keine Aufmerksamkeit.
Menschen! Sie lebten in einer Welt, in der das Gras immer grün blieb, in der die Sonne jeden Morgen aufging und aus Blüten Früchte wurden. Doch was beeindruckte sie? Weinende Statuen. Und in Wein verwandeltes Wasser! Obwohl so etwas nur einen quantenmechanischen Tunneleffekt erforderte. Früher oder später geschah so etwas bestimmt. Es genügte, einige Milliarden Jahre lang zu warten. Als ob Sonnenlicht, das Wein schuf, mit Hilfe von Reben, Trauben, Zeit und Enzymen, nicht viel eindrucksvoller war. Außerdem: Man brauchte weitaus weniger Geduld…
Nun, derzeit beherrschte Om nicht einmal mehr die einfachsten göttlichen Tricks. Blitze, die ebenso wirkungsvoll waren wie Funken vom Pelz einer Katze – damit konnte man niemanden erschlagen. Oh, damals hatte er einige Male ordentlich hingelangt und sich Respekt verschafft. Aber jetzt fiel es ihm schon schwer, sich genug Futter zu beschaffen.
Bruthas Gebet war wie der Klang einer Pikkoloflöte in einer Welt der Stille.
Om wartete, bis der Junge wieder schwieg, entfaltete dann die Beine und wankte nach draußen in die Morgendämmerung.
D ie Ephebianer marschierten über mehrere Höfe des Palastes und umringten die Omnianer auf allen Seiten, fast so wie Gefangene.
Brutha spürte Vorbis’ brodelnden Zorn. In der völlig kahlen Schläfe des Exquisitors pulsierte eine Ader.
Vorbis schien den Blick des Novizen zu fühlen und drehte den Kopf.
»Heute morgen wirkst du irgendwie beunruhigt, Brutha«, sagte er.
»Tut mir leid, Herr.«
»Und du siehst in alle Ecken. Wonach suchst du?«
»Äh, ich bin nur an den Einzelheiten dieser neuen Umgebung interessiert.«
»Die sogenannte Weisheit von Ephebe ist nicht einmal eine Zeile aus dem letzten Absatz des Septateuch wert«, sagte Vorbis.
»Sollen wir nicht das Werk der Ungläubigen studieren, um die Wege der Häresie rechtzeitig zu erkennen?« fragte Brutha, überrascht von sich selbst.
»Oh, ein gutes Argument. Die Inquisitoren haben es oft gehört, und in manchen Fällen wurden die Worte recht undeutlich ausgesprochen.«
Vorbis starrte auf den Hinterkopf von Aristokrates, der die Gruppe anführte. »Sich Ketzerisches anzuhören und festgesetzte Wahrheit in Frage zu stellen… Es ist nicht weit vom einen zum anderen. Häresie kann faszinierend sein. Darin liegt ihre Gefahr.«
»Ja, Herr.«
»Ha! Hier werden nicht nur verbotene Statuen gemeißelt… Offenbar verstehen die Bildhauer nicht einmal ihr Handwerk.«
Brutha war kein Experte, aber diesen Eindruck hatte auch er gewonnen. Er stellte fest, daß die Statuen in den vielen Nischen des Palastes alles andere als perfekt wirkten. Er kam an einer vorbei, die mit zwei linken Armen ausgestattet worden war. Bei einer anderen zeigten sich Ohren in unterschiedlicher Größe. Nichts deutete darauf hin, daß jemand versucht hatte, häßliche Götter darzustellen. Ganz im Gegenteil: Allem Anschein nach hatte der Bildhauer versucht, sein Werk attraktiv zu gestalten. Es war ihm nur nicht recht gelungen.
»Jene Frau dort scheint einen Pinguin in den Armen zu halten«, sagte Vorbis.
»Patina, Göttin der Weisheit«, erwiderte Brutha unwillkürlich. Eine Sekunde später wurde ihm klar, was er gesagt hatte.
»Das, äh, habe ich irgendwo gehört«, fügte er hinzu.
»Ach? Deine Ohren scheinen recht aufmerksam zu sein.«
Aristokrates blieb vor einem imposanten Portal stehen und nickte der Gruppe zu.
»Meine Herren…«, sagte er. »Der Tyrann empfängt euch nun.«
»Merk dir alles, was in jenem Raum gesagt wird«, flüsterte Vorbis dem Novizen zu.
Brutha nickte.
Die Tür öffnete sich.
Überall auf der Welt gibt es Herrscher mit Titeln wie »der Gepriesene«, »der Erhabene« oder »Oberster Gebieter über Dies und Das«. Doch in diesem kleinen Land wählte das Volk den Regenten, konnte ihn jederzeit durch jemand anders ersetzen und nannte ihn…
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