Einfach göttlich
Vorbis hatte sehr deutlich gemacht, was mit den Leuten im Palast geschah, wenn Truppen versuchen sollten, den Irrgarten zu durchqueren.
Hier und dort plünderten omnianische Soldaten auf ihre disziplinierte Art und Weise.
Man schenkte dem Feldwebel auch deshalb keine Beachtung, weil er zu seinem Quartier zurückkehrte.
In Bruthas Kammer befand sich tatsächlich eine Schildkröte. Sie saß auf dem Tisch zwischen einem zusammengerollten Pergament und einer halb abgenagten Melonenschale. Sie schlief, soweit sich das feststellen ließ. Simony packte das Reptil einfach, schob es in den Rucksack und hastete in Richtung Bibliothek.
Auf dem Weg dorthin hatte er dauernd den Eindruck, daß jemand versuchte, seine Aufmerksamkeit zu erregen.
» D u erinnerst dich an sie, nachdem du nur einen kurzen Blick darauf geworfen hast?« fragte Urn.
»Ja.«
»Ganze Schriftrollen?«
»Ja.«
»Das glaube ich nicht.«
»Der erste Buchstabe des Wortes LIBRVM über dem Eingang weist oben eine angeschlagene Stelle auf«, sagte Brutha. »Xeno schrieb Reflexionen, und der alte Aristokrates verfaßte Platitüden, und Didaktylos hält Ibids Diskurse für dämlich. Der Thronsaal des Tyrannen ist sechshundert Schritte von der Bibliothek entfernt. Es…«
»Er hat ein gutes Gedächtnis, das muß man ihm lassen«, unterbrach Didaktylos den Jungen. »Zeig ihm noch mehr Rollen.«
»Woher sollen wir wissen, daß er sich wirklich an alles erinnert?« nörgelte Urn und entrollte ein Pergament mit geometrischen Theoremen. »Er kann nicht lesen. Und selbst wenn er dazu fähig wäre: Er kann auch nicht schreiben!«
»Wir müssen es ihm beibringen.«
Brutha betrachtete eine Schriftrolle voller Draufsichten. Er schloß die Augen. Zwei oder drei Sekunden lang zeigten sich gezackte Konturen an den Innenflächen der Lider, und dann spürte er, wie die Umrisse einen Platz irgendwo in seinem Selbst fanden. Sie verschwanden – und blieben doch vorhanden, jederzeit abrufbar. Urn brachte eine weitere Rolle. Bilder von Tieren. Dann Zeichnungen von Pflanzen und viel Geschriebenes. Dann nur Buchstaben. Dann Dreiecke und andere Symbole. Alles sank wie Staub in die Kammern der Erinnerung. Nach einer Weile bemerkte Brutha überhaupt nicht mehr, daß Pergamente entrollt wurden. Er beschränkte sich allein darauf, zu schauen und zu betrachten.
Er fragte sich, wieviel er im Gedächtnis behalten konnte. Nun, solche Überlegungen waren dumm. Brutha erinnerte sich an alles . Die Oberfläche eines Tischs oder eine Schriftrolle. Maserung und Farbe des Holzes enthielten ebenso viele Informationen wie Xenos Reflexionen.
Trotzdem spürte er eine gewisse mentale Schwere. Er hatte das Gefühl, daß ihm Erinnerungen aus den Ohren quollen, wenn er den Kopf schnell von einer Seite zur anderen drehte.
Urn griff nach einem Pergament und entrollte es nur zum Teil.
»Wie sieht ein Vieldeutiger Puzuma aus?« fragte er.
»Keine Ahnung«, antwortete Brutha und blinzelte.
»Eine tolle Leistung von unserem Herrn Supergedächtnis«, spottete Urn.
»Du bist unfair, Junge«, ließ sich Didaktylos vernehmen. »Immerhin kann er nicht lesen .«
»Na schön. Äh… Beschreib uns das vierte Bild der dritten Schriftrolle, die du gesehen hast.«
»Ein vierbeiniges Geschöpf, das nach links sieht«, sagte Brutha sofort. »Ein großer, katzenartiger Kopf und breite Schultern. Der Körper verjüngt sich nach hinten, weist ein Muster aus dunklen und hellen Quadraten auf. Die Augen sind sehr klein und liegen flach an. Sechs Schnurrhaare. Ein stummelförmiger Schwanz. Nur die Pfoten der Hinterbeine sind mit Krallen ausgestattet, und zwar mit jeweils drei. Die vorderen Pfoten haben die gleiche Länge wie der Kopf und sind an den Leib gepreßt. Dichte Behaarung…«
»Er hat das Bild vor fünfzig Schriftrollen gesehen«, sagte Urn. »Und nur für eine Sekunde.«
Onkel und Neffe staunten. Brutha blinzelte erneut.
»Weißt du alles ?« fragte Urn.
»Ich weiß es nicht.«
»Du hast die halbe Bibliothek im Kopf!«
»Ich fühle mich… ein… bißchen…«
D ie Bibliothek von Ephebe brannte lichterloh. An den Stellen, wo das Kupferdach schmolz und auf die Regale herabtropfte, schimmerten die Flammen blau.
Alle Bibliotheken des Multiversums sind durch Bücherwurmlöcher in den Dimensionen miteinander verbunden. Hervorgerufen werden solche Phänomene von Verzerrungen der Raum-Zeit, und dafür sind große Ansammlungen von Büchern verantwortlich.
Nur einige wenige Bibliothekare
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