Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Einstein, Orpheus und andere

Einstein, Orpheus und andere

Titel: Einstein, Orpheus und andere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Samuel R. Delany
Vom Netzwerk:
vorbeikam, vergaß ich nicht, ihn mir genau anzuschauen. Es war später Nachmittag. Ich war so müde, daß mir alle Wunder der Welt mit Glockenschwall hätten in die Augen springen können, ohne einen Eindruck zu hinterlassen.
    Die meisten Karren wurden von vier- oder sechsbeinigen Tieren gezogen, die mir vage bekannt vorkamen. Aber neue Tiere sind kein fremder Anblick, wenn die eigene Herde alle möglichen Ungeheuer werfen kann. Ein Karren allerdings erregte mein Interesse.
    Er war niedrig, aus schwarzem Metall, und hatte kein Tier, weder hinten noch vorn. Er schnurrte zehnmal schneller als die anderen über die Straße und war in einer Rauchwolke verschwunden, ehe ich richtig Zeit gehabt hatte, ihn zu sehen. Ein paar Drachen, die die anderen Karren nicht beachtet hatten, scheuten jetzt und fauchten. Spinne rief mir zu, während ich hinterherstaunte: »Nur eins von den Wundern in Branning-at-Sea.«
    Ich drehte mich um und beruhigte die aufgeregten Drachen.
    Als ich das nächstemal zur Straße blickte, sah ich das Bild. Es war auf eine große Wand neben dem Pflaster gemalt, so daß alle, die vorüberkamen, es sehen konnten. Es war das Gesicht einer jungen Frau mit baumwollweißem Haar, einem kindlichen Lächeln, hochgezogenen Schultern. Sie hatte ein kleines Kinn und grüne Augen, die aussahen, als seien sie in angenehmer Überraschung geweitet. Die Lippen standen über den kleinen überschatteten Zähnen leicht offen.
    DIE TAUBE SAGT: »EINER IST GUT? NEUN ODER ZEHN SIND VIEL BESSER! «
    Ich buchstabierte die Überschrift und runzelte die Stirn. Batt war in Brüllweite, also brüllte ich zu ihm rüber: »He, wer ist denn das?«
    »Die Taube! « kreischte er zurück und schüttelte das Haar über seinen Schultern. »Er will wissen, wer die Taube ist!« Und alle anderen lachten ebenfalls. Als wir Branning-at-Sea näher und näher kamen, wurde ich mehr und mehr zur Zielscheibe ihres Spotts. Ich hielt mich mehr an Grünauge: er machte sich nicht über mich lustig. Der erste Abendwind strich über mein Kreuz, über den Nacken und trocknete den Schweiß, ehe neuer Schweiß ausbrach.
    Ich starrte pflichtgemäß auf die Drachenschuppen, als Grünauge anhielt und nach vorn deutete. Ich blickte auf. Oder vielmehr hinunter.
    Wir hatten gerade den Kamm eines Hügels überwunden, das Land fiel flach ab, und vor uns lag – also, wenn es zwanzig Meter weit entfernt gewesen wäre, dann wäre es ein großartiges Spielzeug gewesen. Wenn es zwanzig Kilometer weit entfernt war, dann war es einfach nur großartig. Gepflasterte Straßen führten in diese weiße und aluminiumsilberne Vielfalt an der purpurfarbenen See. Jemand hatte sie zu bauen begonnen, und dann war ihm die Sache aus der Hand gerutscht und hatte begonnen sich selbst weiterzubauen. Es gab große Plätze, auf denen Kakteen wuchsen und Palmen sich wiegten; ab und zu Hügel, auf denen Bäume und Wiesen sich um einzelne Gebäude lagerten; viele Abschnitte mit winzigen Häuschen, die in gewundene Straßen gestopft und gepreßt waren. Dahinter, vor den glatten Docks im Hafen, fuhren Schiffe unter dem wässerigen Abendhimmel.
    »Branning-at-Sea«, sagte Spinne neben mir. »Da liegt es.«
    Ich blinzelte. Die Sonne legte unsere Schatten vor uns hin, wärmte uns den Rücken, blinzelte in den höheren Fenstern. »Es ist groß«, sagte ich.
    »Gleich da unten« – Spinne deutete irgendwohin, aber ich konnte ihm nicht folgen, weil es so viel zu sehen gab, und so hörte ich einfach nur zu – »ist der Platz, wohin wir die Tiere bringen. Dieser ganze Teil von Branning lebt vom Viehgeschäft. Der Hafenbezirk überlebt durch Fischfang und Handel mit den Inseln.«
    Die anderen gesellten sich jetzt zu uns. Obwohl sie doch mit der Pracht und dem Dreck da unten vertraut waren, wurden sie still, als wir hinabstiegen.
    Wir kamen wieder an einer Bildwand neben der Straße vorbei. Diesmal wurde die Taube aus einem anderen Blickwinkel gezeigt, sie winkte in der Dämmerung:
    DIE TAUBE SAGT: »ZEHN SIND ZWAR GUT, DOCH NEUNUNDNEUNZIG ODER HUNDERT SIND SEHR VIEL BESSER!«
    Während ich sie mir ansah, gingen über dem zwanzig Fuß hohen Gesicht Lichter an. Der riesige sorglose Gesichtsausdruck sprang uns an. Ich muß wohl überrascht ausgesehen haben, denn Spinne wies mit dem Daumen nach ihr und sagte: »Sie lassen die ganze Nacht die Lampen an, damit Vorüberkommende lesen können, was die Taube zu sagen hat.« Er lächelte, als habe er mir etwas leicht Unanständiges erzählt. Dann rollte er seine

Weitere Kostenlose Bücher