Einsteins Gehirn: Kriminalroman (German Edition)
Hochsicherheitstrakt
aufscheuchen zu können. Bei diesem verschrobenen König der Einsiedler zählte das
alles nicht.
Ich ließ
mich ratlos auf der blau gestrichenen Holzbank am Eingang nieder. Seine beiden Dobermänner
schienen zu wittern, dass ich mit meinem Latein am Ende war, denn sie begannen leise
zu heulen. Nach und nach wurde ihr Heulen immer lauter und schließlich heulten sie
um die Wette, was das Zeug hielt …
»Rolo, Humbert
– aus!«, rief ich mehrmals laut, um mir peinliche Fragen zu ersparen, wieso ich
mich trotz der geschlossenen Pforte auf dem Grundstück befand. Doch meine Warnung
schien sie eher noch anzufeuern, sie gaben einfach keine Ruhe.
Dann bewegte
sich knarrend ein Fensterladen über uns. Das Fenster wurde wieder geschlossen und
auf der Treppe waren Schritte zu hören. Der Mann, der gleich darauf die Tür öffnete,
wirkte mit seinem kahlen Riesenschädel wie die Erscheinung aus einer anderen Welt.
»Visitenkarte
…«, sagte er und streckte seine Hand aus.
»Viele Grüße
von Ihrem Bruder in New York.«
»Hab dem
Esel schon ein paar Mal gesagt, dass ich für niemanden zu sprechen bin. Also verschwinden
Sie schon …«
»Sie gelten
als bedeutendster zeitgenössischer Leugner der Willensfreiheit, Professor Trousson.
Aber ist es nicht ein Kuriosum, dass ein determinierter Automat wie Sie überhaupt
philosophische Betrachtungen über die Willensfreiheit anstellt? Was in aller Welt
bringt einen Automaten mit akademischem Grad dazu, sich solche Fragen zu stellen?«
»Seit wann
glaubt eigentlich jeder dahergelaufene Möchtegerntheoretiker, Fehler in meiner Arbeit
zu entdecken?«
»Fälschliche
Gleichsetzung von vermeintlicher und ansichseiender Kausalität«, sagte ich, um ihn
aus der Reserve zu locken. »Humes These von bloß vermeinter Kausalität hat angeblich
schon Kant aus seinem dogmatischen Schlummer geweckt.«
»Ich stimme
mit den meisten Hirnforschern darin überein, dass unsere Willensimpulse ihren subkortikalen
Ursprung im limbischen System haben. Warum sollte ein von Gott geschaffener autonomer
Geist ein Gehirn mit Transmitterausschüttung nötig haben, um in der materiellen
Welt zu leben?«
»Vielleicht,
weil die Seele ein Organ braucht, um körperliche Prozesse zu steuern? Weil sie als
körperlose Seele nur Ich-Bewusstsein hat? Was macht Sie so sicher, dass das unmöglich
wäre, Professor?«
Trousson
schüttelte skeptisch den Kopf – bedeutete mir dann aber doch, ihm ins Haus zu folgen.
Außer einigen Bildern provenzalischer
Maler, die von schwachen Messinglampen angestrahlt wurden, gab es kaum einen Flecken
Wand in seinem Arbeitszimmer, der nicht von Buchregalen ausgefüllt wurde. Die Regalwand
in der Mitte war den Klassikern vorbehalten. Trousson verfolgte amüsiert, dass ich
sofort zielstrebig auf einer Leiter zur obersten Reihe ledergebundener Folianten
hinaufkletterte.
»Donnerwetter,
das ist ja die komplette Erstausgabe von Humes Werken …«
»Mit besonderer
Berücksichtigung des Kausalproblems.«
» Treatise
1.3.2. … «, raunte ich ehrfurchtsvoll.
»Hume ist
und bleibt der Gigant der abendländischen Philosophie. Wenn es damals schon das
Kochen-Specker-Theorem gegeben hätte, würde er sich wohl bestätigt gesehen haben.«
»Meiner
Meinung nach kann auch die Quantentheorie nicht die Subjekt-Objektspaltung überspringen«,
gab ich von der obersten Leitersprosse aus zu bedenken. »Jede Behauptung über eine
vom Beobachter unabhängige Realität bleibt spekulative Metaphysik. Formale Folgerungen,
die sich aus der Mathematik des Kochen-Specker-Theorems ableiten lassen, stellen
keinen Ersatz für einen Beobachter dar, der hinter den Vorhang blickt.«
»Du spielst
auf meine Überzeugung an, dass alles Weltgeschehen streng determiniert ist und Willensfreiheit
nur Illusion?«
»Ehrlich
gesagt, habe ich meinen Flug von New York nach Rom nur unterbrochen, um Antwort
auf eine einzige Frage zu erhalten – WAS MACHT SIE SO SICHER?«
Trousson
ging zum Schreibtisch und reichte mir ein mit roter Tinte korrigiertes Manuskript.
Ich überflog das Inhaltsverzeichnis und begann mit der Lektüre des ersten Kapitels,
dessen Überschrift lautete: Wie uns die Freiheit erscheint.
»Ich sehe
schon, dass du zu den Schnelllesern gehörst, die den Sinn eines Kapitels in wenigen
Minuten erfassen«, bemerkte er anerkennend.
»Der Determinismus,
so behaupten Sie, geht auch durch unsere gedankliche Illusion der Wahlfreiheit.
Denn woher kommen die Gedanken? Handelt es sich um
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