Eischrysanthemen
hinaustrat. Musste das elendige Vieh gerade diesen Zeitpunkt aussuchen, auf Erkundungstour zu gehen? Mit schlecht unterdrückter Wut folgte er Marianne in ihre Wohnung. Schnurstracks ging er ins Badezimmer, wo Marianne schon einen Stuhl an das hochgelegte Fenster gestellt hatte.
„Ich habe ja selbst versucht, sie vom Sims zu fischen, aber ich komme einfach nicht an sie heran“, sagte Marianne, während Vincent auf den Stuhl kletterte und den Kopf durch das schmale Fenster nach draußen steckte. Die Katze saß auf dem Sims, hatte sich in eine Ecke zurückgezogen und sah brav zu ihm hoch.
„Es tut mir echt leid, dass ich dich schon wieder stören musste, aber sie kommt ja alleine nicht zurück“, jammerte Marianne.
Vincent hörte ihr gar nicht mehr wirklich zu, sondern streckte sich, um die Katze mit einer Hand am Genick zu packen. Blöderweise neigte die Katze den Kopf, und so konnte er sie nicht fassen. Erst nach einigen qualvoll langen Minuten gelang es ihm, die Katze am Kragen zu packen und sie hochzuheben. Wie zu erwarten gab sie ein beleidigtes Miauen von sich, als Vincent sie durch das Fenster zurück in die Wohnung zog und an Marianne weiterreichte.
„Zum Glück, es geht dir gut!“, murmelte sie ins Fell der Katze, bevor ihr Blick wieder zu Vincent zurückkehrte. „Danke, du hast echt was gut bei mir“, sagte sie ganz überschwänglich und drückte Vincent, der die Umarmung ebenfalls kurz erwiderte.
„Hauptsache es geht ihr gut. Also ich werde dann ...“ Das war ein sehr kurzer Abschied, aber Vincent wollte wieder zurück in seine Wohnung, zu Kira, und sich nur noch mit ihm beschäftigen. Beschwingt verließ er Mariannes Wohnung und stockte sofort, denn die Tür zu seiner eigenen Wohnung war offen. Hatte er sie etwa nicht geschlossen? Mit einem unguten Gefühl betrat er die Wohnung und zog die Tür hinter sich ins Schloss.
„Kira?“, rief er leise und ging ins Wohnzimmer, doch dort war nichts von seinem Besuch zu sehen. Alles wirkte, als wäre Kira gar nicht hier gewesen, zumindest bis Vincents Blick auf den Laptop fiel, den jemand gedreht hatte, um besser lesen zu können. Ihm wurde heiß und kalt, als er die Stelle überflog, welche Kira wohl gelesen haben musste. Es handelte sich ausgerechnet um jenen Teil, wo Vincent sich über den vermeintlichen Kontakt zu den Yakuza ausgelassen hatte. Sein Magen zog sich zusammen, als er sich umdrehte und in den Flur lief, nur um festzustellen, dass Kiras Mantel nicht mehr da war. Nur zu gut konnte sich Vincent vorstellen, wie das alles auf Kira wirken musste! Warum in aller Welt hatte er die Datei nicht geschlossen und den Laptop runtergefahren? Unter Selbstvorwürfen schlüpfte er in seine Schuhe, zog seinen eigenen Mantel an und rannte aus der Wohnung, hinunter auf die Straße.
Kira war ganz sicher mit einem Taxi zu ihm gekommen und er kannte sich in dieser Gegend nicht aus, wusste nicht, wo die nächste Bahn lag oder ein Taxistand war. In welche Richtung war er also gegangen? Vincent überlegte fieberhaft, bis er am Ende der Straße den kleinen Stand eines Zeitungsverkäufers entdeckte, der seine Ware ordentlich auf einen Ständer drapierte. Schnell lief er zu ihm, in der Hoffnung, dass der Mann Kira gesehen hatte.
„Tut mir leid, aber ich habe eine Frage, ist hier vielleicht ein Mann vorbeigegangen? Etwas kleiner als ich? Japaner“, fragte Vincent mit klopfendem Herzen.
Der Zeitungsverkäufer hob den Kopf und musterte Vincent eine Spur zu lang, als würde er abschätzen wollen, ob Vincent vielleicht nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte. Schließlich ließ er sich doch zu einer Antwort herab.
„Wenn das einer in einem Mantel war, der wütend davongestapft ist, dann ist der in diese Richtung“, gab er endlich zur Auskunft.
Vincent murmelte erleichtert ein kurzes „Danke“ und lief in die ihm gewiesene Richtung. Er war ganz außer Atem, als er Kira endlich an der zweiten Ecke entdeckte. Er stand an einer Ampel und selbst auf die Entfernung sah Vincent, wie versteift seine Gestalt wirkte. Jegliche Geschmeidigkeit war aus seinem Gang gewichen, als er über die Kreuzung ging und Vincent noch einen Zahn zulegen musste, um ihn einzuholen.
„Kira!“, rief er ihm hinterher und scherte sich nicht darum, dass ihn die Leute angafften. Er schaffte es gerade noch über die Straße zu kommen, bevor die Autos anfuhren. Er erreichte Kira, der sich nicht umgedreht hatte, und rang nach Luft.
„Kira“, keuchte Vincent und legte seine Hand auf die
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