Eisige Versuchung
Neuigkeit schnell verbreitet. In einem kleinen Ort spricht sich alles schnell herum.« Das war ein Grund, weshalb sie froh war, in der Großstadt zu wohnen. Anonymität. In Los Angeles interessierte sich niemand für den Nachbarn. Keiner wusste, welche Leichen man im Keller hatte. Oder welche Dämonen aus der Vergangenheit einen verfolgten.
In Shades Heimatort jedoch hatte jeder über Kid Boyd und sie Bescheid gewusst. Sie waren die besten Freunde gewesen. Nicht unzertrennlich, aber doch nahe dran. Obwohl sie sich gegenseitig mit Buntstiften Herzen in die Malbücher zeichneten, konnte man nicht von Liebe sprechen. Dafür waren sie noch viel zu jung gewesen. Sie kannten ja nicht einmal die Bedeutung dieses Wortes. Kinder, unschuldig, wild und voller Lebenslust. Die Wälder waren ihr Abenteuerspielplatz gewesen.
Wenn sie jetzt so darüber nachdachte, hier am Fuße des Mount Jackson, spürte sie Wehmut und Sehnsucht. Die Kids in L.A. verpassten etwas. Sie kannten nur Indoor-Spielplätze, Hallen ohne Fenster, ausgestattet mit knallbuntem Plastik und grellen Clownsgesichtern, die Shade in jungen Jahren vermutlich in ihren Albträumen verfolgt hätten.
Sanft hob Roque ihr Kinn an. »Woran denkst du?«
»An meine Kindheit in Bridgeport.« Ihr Lächeln wirkte müde. »So übel war es gar nicht, hier aufzuwachsen.« Sie hatte auch schon lange nicht mehr so tief und lange geschlafen wie hier. Ob das nun etwas mit Roque oder mit der frischen klaren Luft und der Ruhe zu tun hatte, vermochte sie nicht zu sagen.
»Hast du denn schlechte Erinnerungen daran?« Noch immer lag seine Hand an ihrem Kinn. Nun fuhr er sinnlich mit seinen Fingern ihren Kiefer entlang und strich über ihre Ohrmuschel, sodass sie köstlich prickelte.
Shade hatte keine Lust, ihm von Kid zu erzählen. Die Vorstellung, an seinem Elternhaus vorübergehen zu müssen, um zu ihren Großeltern zu gelangen, und womöglich Mr. oder Mrs. Boyd zu treffen, zerrte schon genug an ihren Nerven. »Gute und weniger gute wie wohl jeder.«
»Die Dämonen der Vergangenheit lassen uns nie vollkommen los«, erwiderte er einfühlsam, als könnte er ihre Gedanken lesen, doch sein Blick war nach innen gerichtet, daher sprach er wohl eher über seine eigenen.
»Ich fahre lieber allein zu meinen Großeltern.«
»In Ordnung.« Er ließ so abrupt von ihr ab, dass die fehlende Berührung eine Leere in ihrem Inneren hinterließ.
»Nur weil ich sie nicht belügen möchte«, beeilte Shade sich zu erklären. »Das hätten sie nicht verdient.«
Er trat einen Schritt von ihr zurück und verdeutlichte damit die Kluft, die sich emotional zwischen ihnen auftat. Die Temperatur blieb gleich, und dennoch wurde die Atmosphäre frostig. »Ja, natürlich, du brauchst mich nicht als deinen Freund auszugeben.«
»Ich meinte …«
»Schon in Ordnung.« Er wollte sich abwenden, aber sie hielt ihn davon ab.
»Doch nur bezüglich dessen, was du bist, ein Eisengel und kein Mensch.« Impulsiv packte sie den Bund seiner Hose und zog Roque zu sich heran. Seinen Bauch an ihrem Handrücken zu spüren gefiel ihr. Nur allzu gern hätte sie ihre Finger tiefer wandern lassen. »Du hast mich schon spontan als deine Ehefrau ausgegeben, und ich habe mich nicht beschwert. Wenn ich ehrlich sein soll, war ich gar nicht so unglücklich über diese Vorstellung.«
Roques versteinerte Miene wurde weicher. »Mr. und Mrs. Rodriguez.«
»Klingt gar nicht übel.« Schmunzelnd rieb sie ihre Lippen aufeinander. Sie hatte nie darüber nachgedacht zu heiraten. Bei keinem ihrer Partner hatte sie gewünscht, ihn auf ewig an sich zu binden. Nun kam Roque daher, sie verbrachte wenige Tage mit ihm und spürte instinktiv, dass sie zusammengehörten. Verrückt! Aber er war ja auch nicht irgendein Kerl, sondern ein Engel.
»Finde ich auch.« Eng drückt er Shade an sich, sodass ihr Gesicht in seiner Halsbeuge lag. Er packte ihren Hintern fest, presste ihr Becken gegen seine Lenden und küsste ihre Haare. Er sprach leise, mehr zu sich selbst als zu ihr, und sie musste sich konzentrieren, um ihn überhaupt zu verstehen: »Wo warst du in meinem früheren Leben? Du hättest mir gut getan. Deine Zuneigung hätte mir gezeigt, dass ich doch etwas wert bin, dass man sich nicht durch Erfolg definiert, sondern dadurch, ob man liebenswert ist. Mit dir an meiner Seite hätte ich niemanden ins Unglück gestürzt. Ich bedaure es so sehr, dich nicht damals schon getroffen zu haben!«
»Alles kommt so, wie es kommen muss.« Sie ertastete den
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