Eisige Versuchung
Flaum in seinem Kreuz und kraulte ihn. »Wir sind jetzt zusammen.«
»Es ist zu spät.« Sein Brustkorb erbebte.
»Das ist es nie!«
Er schob sie ein Stück von sich fort, um ihr in die Augen zu schauen. »Du siehst es nicht, aber mein Herr hat mich an die Leine gelegt. Bald wird er mich daran in sein Reich zurückzerren, und niemand kann ihn daran hindern.«
»Was sich liebt, das gehört zusammen, daran glaube ich.« Sie kam sich vor wie die Heldin in einem verdammten Bollywood-Film, die sich schmachtend dem Helden an den Hals wirft und ihm schmalzige Liebesschwüre ins Ohr flüstert. Es fehlte nur noch, dass sie zu tanzen anfingen! Shade erkannte sich selbst kaum wieder. Wo war die harte Großstädterin geblieben? Roque machte sie weich, aber er machte sie eben auch weiblich und glücklich.
»Sag so etwas nicht! Das bricht mir das Herz.« Plötzlich presste er sich die Faust gegen die Brust. Sein Gesicht verzog sich vor Schmerz, er lehnte sich vor und stützte sich an einem Baum ab. Keuchend rang er um Fassung. Als wäre Shade ansteckend, taumelte er rückwärts und erhob sich in die Lüfte.
»Wir sehen uns im Gasthof Wild Goose «, krächzte er mit von Leid erstickter Stimme.
Bestürzt starrte Shade ihm hinterher. Er stieg immer höher auf. Sie befürchtete schon, er würde es mit dem »Kamikazeflug« diesmal wörtlich nehmen und absichtlich zur Sonne fliegen, um sich vom Eisigen Lord zu lösen, indem er verglühte. Doch er bog zum Gipfel des Mount Jackson ab und tauchte dort in den Wald ein.
Sie schirmte ihre Augen vor den hellen Strahlen ab. Der Himmel über ihr war klar und blau. Keine Wolke weit und breit, nicht einmal Dunst. Noch immer schneite es nicht. Das bereitete Shade zunehmend Sorgen. Konnte der Eisengel womöglich ebenso schmelzen wie der Schnee und litt, weil seine Organe sich bereits auflösten? Stellte seine optische Veränderung ein erstes äußeres Zeichen für sein Dahinsiechen dar?
Shade stieg in den SUV und versuchte, sich damit zu beruhigen, dass Roque vitaler als zuvor aussah. Kummer ballte ihren Magen zusammen, sodass sie zwar Hunger wahrnahm, aber befürchtete, sie müsste sich übergeben, sollte sie etwas essen. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es bereits Mittag war.
Mehr als ein Mal seufzte sie auf der Fahrt nach Bridgeport. Nicht nur Roques Qual setzte ihr zu, sondern auch die Aussicht darauf, in die unmittelbare Nähe der Boyds zu kommen. Aber es half nichts. Sie musste mit ihren Großeltern reden. Unter anderen Umständen hätte sie die beiden schon viel früher besucht. Außerdem, wenn jemand etwas über geplante Baumaßnahmen wusste, dann sie.
Im Ort waren Maud und Albert sehr beliebt. Trotz ihres hohen Alters engagierten sie sich im Heimatverein. Maud bot schon seit zwanzig Jahren einen Kurs im Nähen von Quilts an und lud die Damen der Gemeinde jedes Jahr zum Adventskaffee ein. Albert war früher Mitglied der freiwilligen Feuerwehr gewesen. Auch wenn er schon lange nicht mehr bei Bränden mit dem Löschwagen herausfuhr, so organisierte er noch immer das Sommerfest mit. Die Barbecues für die Nachbarschaft waren legendär. Babas gegrillte Rippchen waren die besten! Saftig und würzig.
Shades Magen knurrte. Sie stellte ihren Geländewagen in einer Parklücke am Straßenrand zwei Häuser weiter ab und fragte sich mit einem Mal, ob die Anonymität in L.A. wirklich so erbaulich war, wie sie bisher gedacht hatte. Man ließ sie in Ruhe, das genoss sie, aber eine Etage unter ihr war vor fünf Monaten eine einundneunzigjährige Frau verstorben. Man fand sie jedoch erst drei Wochen später – und das auch nur, weil es bestialisch im Treppenhaus stank. Die gehbehinderte alte Dame war gefallen und hatte nicht mehr allein aufstehen können. In Bridgeport hätte man sie schon nach zwei Tagen vermisst und retten können, denn, wie sich herausstellte, war sie elendig, auf dem Boden liegend, verdurstet.
Nachdenklich blieb Shade noch sitzen. Vielleicht hatte sie sich bisher absichtlich an die negativen Seiten des Lebens in den Bergen erinnert, damit keine Sehnsucht aufkam. Womöglich hatte ihre eigene schlimme Geschichte alles schwarz gefärbt. Wenn sie genauer überlegte, hatte sie wundervolle Jahre in dieser Gemeinde verlebt.
Als Kind hatte sie sich vogelfrei und gleichzeitig geborgen gefühlt. In Los Angeles kam sie sich wie ein Hamster in einem Laufrad vor. Aufstehen, arbeiten und schlafen gehen. Die Spaziergänge durch die Natur fehlten ihr, sie waren Balsam für ihre
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