Eiskalte Angst
trösten.
»Du hast Recht, April. Du solltest dich aber noch etwas gedulden. Fürs Erste wäre es wirklich besser, du ziehst dich an, damit wir von hier verschwinden können.«
Wieder fiel Aprils Blick auf den Körper des Toten. Während sie im Badezimmer gewesen war, hatte Marco die Bettdecke über ihn gebreitet, sodass es aussah, als schlafe jemand auf dem Teppich seinen Rausch aus.
»Okay! Aber lass’ dir nicht zu viel Zeit mit deiner Erklärung«, nickte April knapp. Sie würde sich also umziehen. Verlegen blieb sie stehen.
»Ich werde mich etwas frisch machen«, sagte Marco und trat an ihr vorbei ins Badezimmer.
April hielt in am Arm fest.
Sie drehte Marco zu sich hin. Ihre Blicke trafen sich.
Die Zeit schien stillzustehen.
Es gab keinen Fernando mehr, keine Fragen, keine Rätsel, keine Angst.
In diesem Augenblick existierten nur sie beide.
Würden sie sich küssen?
Jetzt?
Hier?
Marco schüttelte sanft den Kopf. Seine Augen blickten voller Qual. Seine Mundwinkel zuckten. »Nein, April ... du wirst bald alles verstehen.«
»Ich weiß, was ich für dich empfinde.«
»Passt ... rede nicht weiter, bitte …«, flehte er. »Mir ...« Er räusperte sich. »Mir geht es nicht anders, April. Mir geht es, verdammt noch mal, nicht anders! Aber ich kenne das. Es ist, weil ich dich heilte, es sind meine Schwingungen in dir … es ist falsch, verstehst du? So schnell kann man sich nicht in einen anderen Menschen …«
»Marco …«
»Nein, April.«
Er ließ sie stehen und hinter ihm knallte die Badezimmertür zu.
18
Grelle Scheinwerfer durchbohrten die eiskalte Dunkelheit, die über dem Gletscher lag. Mehr als ein Dutzend Menschen arbeiteten unter diesen Lichtern. Hämmern, Sägen und Stimmengewirr sorgten hier oben, in 4350 Meter Höhe, für eine ungewöhnliche Klangkulisse.
»Das Licht auf den Meister!«
Der Spot traf den großen Dragus und hüllte ihn in ein gespenstisches Licht.
»Fahr’ näher ran mit der Eins!«
Befehle schwirrten durcheinander.
»He, du Tölpel - er sieht aus wie ein Geist ... geb mal nen Filter davor!«
Sekunden später war der große Dragus in das richtige Licht getaucht. Er stützte sich mit den Handflächen auf seinem Rednerpult ab, lächelte charmant und sah nun tatsächlich aus wie der nette Onkel von nebenan - oder wie ein überaus erfolgreicher Psychologe.
Ein Mädchen sprang herbei und puderte ihm den Kahlkopf. Der große Dragus ließ das alles regungslos über sich ergehen, lediglich seine Augen funkelten leidenschaftlich.
Licitus, der etwas abseitsstand, beobachtete die unwirkliche Szenerie.
Der große Dragus winkte ihn heran. Die Schultern demütig gesenkt, stapfte Licitus durch den festgetretenen Schnee.
»Wie gefällt dir das, Rechte Hand?« Der große Dragus machte eine umfassende Geste.
Licitus nickte und schwieg.
»Sind sie nicht wunderbar? Schau nur, wie sie sich anstrengen, um den heutigen Tag gebührend zu feiern. Schon die Tatsache, dass wir Redakteure des größten Fernsehsenders der Schweiz und Deutschlands hier haben, zeigt, wie wichtig wir für die Menschheit sein werden.«
Licitus schwieg weiterhin.
»Ich liebe sie alle - alle meine Jünger. Sie haben mein Buch studiert und tragen meine Lehren in das Land hinaus. Sie wissen, dass sie unsterblich sind.« Der große Dragus räusperte sich gerührt und für einen Moment versagte ihm seine Stimme den Dienst. »Sind die Auserwählten schon informiert? Wissen diejenigen, die heute an der Zeremonie teilnehmen werden, schon von ihrem Glück?«
»Ja, Meister.«
»Zeige mir einen von ihnen.«
Licitus suchte und wies auf eine schmale Gestalt, die sich bei näherem Hinsehen als Frau entpuppte.
»Lass sie zu mir kommen!«, befahl der große Dragus.
Als die junge Frau Licitus ihren Namen rufen hörte, blickte sie erschrocken auf. Sie hielt einen Scheinwerfer, der ihr aus der Hand rutschte und auf den Rand eines Holzpodestes fiel. Mit einem Knall, der wie ein Gewehrschuss klang, zersprang die Birne und Funkeln zischelten im Schnee.
Der große Dragus knurrte und seine Augen waren schmale Schlitze, als er Licitus anblickte. »Sie? Diese Frau? Sie soll in den Kreis der Oberen aufgenommen werden? Sie, die sich zu Tode erschreckt, wenn ihr Meister etwas von ihr will? Sie, die ein verschrecktes Kaninchen ist, soll mithelfen, der Menschheit meinen Segen zu bringen? Das - kann - doch - nur - ein - Witz - sein!«
»Sie ist warmherzig und die Menschen vertrauen ihr. Sie hat alle Kommuns
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