Eiskalte Rache: Thriller (German Edition)
aufgeben«, meinte Holtz oben auf dem Weg. Levin hörte ihm an, dass er in die Wärme des Präsidiums zurückwollte.
»Sei dir da nicht so sicher«, rief sie zurück, nachdem sie sich fast zehn Meter von ihm entfernt hatte. »Komm, beeil dich!«
Deutliche Fußspuren waren im Graben zu sehen.
»Schau hier.« Pia Levin zeigte auf einen deutlichen Abdruck neben einem Stein. Zwei perfekte Schuhabdrücke nebeneinander.
»Jemand hat hier auf dem Stein gesessen«, sagte sie.
Holtz löste rasch die Schnur, mit der die alubeschichtete Decke zusammengehalten wurde.
»Hol ein paar Zweige. Beeil dich.«
Levin sah sich um. Etwas weiter den Graben entlang erblickte sie zwei orangefarbene Wegmarkierungen, die in der Erde steckten. Sie zog die Stecken heraus, und mit Hilfe der Rettungsdecke und ein paar kräftigen Kiefernzweigen errichteten sie daraus rasch ein provisorisches Zelt über den Abdrücken. Als sie fertig waren, begaben sie sich wieder auf den Weg.
»Meine Güte. Ganz schön anstrengend«, sagte Holtz mit einem schrägen Lächeln. »Jedenfalls habe ich jetzt etwas Neues über Orientierung in der Natur gelernt. Aber das mit Pocahontas kapiere ich nicht. Geronimo schon eher, aber Pocahontas?«
Sie lächelte. Der Ärger war verflogen, das Gleichgewicht wiederhergestellt.
Holtz öffnete seine Tasche und nahm eine Spraydose heraus. Levin holte das Auto. Als sie zurückkam, hatte er die Spuren im weißen Schnee mit einer Schicht dunkelroter Farbe bedeckt.
»Die Schuhabdrücke sind erstklassig, vielleicht bringen sie ja etwas«, meinte er. »Aber da ist noch etwas. Komm und nimm den Fotoapparat mit.«
Levin streckte gerade die Hand nach der Kamera aus, die zwischen Fahrer- und Beifahrersitz im Auto lag, als sie irgendwo auf dem Boden des Fahrzeugs ein Handy klingeln hörte. Sie langte reflexartig nach ihrem eigenen, aber das steckte, wo es stecken sollte.
»Ich glaube, dein Handy liegt hier irgendwo. Es hat geklingelt.«
Verwirrt sah Holtz hoch und tastete seine Hosentaschen ab.
»Das kann warten. Komm jetzt mit.«
Sie stellte sich neben ihn in den Graben.
Der Abdruck neben dem Stein wies ein rechteckiges und ein abgerundetes Ende auf, war ungefähr vierzig Zentimeter lang und zwanzig Zentimeter breit. Irgendetwas hatte auf der Sohle gestanden.
Holtz besserte die Konturen des Abdrucks mit Farbe nach, und Levin schoss eine Serie Fotos aus allen denkbaren Perspektiven. Dann sperrten sie das Areal mit Flatterband ab und hängten ein kleines Schild auf, das den Zutritt untersagte.
Den Nachmittag verbrachte Levin damit, die Fotos zu analysieren und zu katalogisieren, sie lieferten ihr jedoch keine weiteren Aufschlüsse, und schließlich saß sie einfach nur da und starrte in die Luft. Langsam kaute sie auf einem Toffee, das sie in einer Schreibtischschublade gefunden hatte. Es klebte an ihren Zähnen. Nach einigen Minuten erhob sie sich aus ihrem Bürosessel. Er schaukelte und kam schließlich in aufrechter Stellung zur Ruhe. Sie hatte versucht, ihn anders einzustellen, da sie es wenig angenehm fand, bei jedem Hinsetzen nach hinten wegzukippen. Es war ihr jedoch nicht gelungen herauszufinden, welcher Hebel für die Schaukelfunktion zuständig war. Gedankenverloren massierte Levin ihr rechtes Ohrläppchen, während sie im Zimmer einige Runden drehte. Dann holte sie die Mappe und schaltete die Deckenlampe aus, sodass die Schreibtischlampe einen warmen, orangefarbenen Lichtkreis auf die Schreibtischplatte warf. Die Pappmappe war gelb und wurde von schwarzen Gummibändern zusammengehalten. Die Farbe hatte sie bewusst ausgesucht. Gelbe Mappen verwendete sie für jene Fälle, von denen sie Schmerz erwartete. Die Farbe der Schande. Lange lag die Mappe ungeöffnet im Lichtkegel auf dem Tisch. Sie setzte sich. Fingerte an der Mappe herum. Zog langsam die Gummibänder weg, die sie zusammenhielten. Holte tief Luft.
In der Mappe lagen neun Fotos des Jungen. Er war drei Monate alt gewesen, als er ins Krankenhaus gekommen war. Sein verzweifelter Vater hatte ihn eingeliefert. Er habe den Jungen beim Windelwechsel fallen lassen. Fliesenboden. Der behandelnde Arzt hatte die Polizei verständigt. Die Verletzungen des Jungen waren erheblich gewesen. Ein gebrochenes Bein, eingedrückter Brustkorb, mehrere alte Verletzungen, auch des Gehirns, wie sich später herausstellte. Der Vater wurde festgenommen. Das Kind kam zu Pflegeeltern. Pia Levin hatte bei der Haussuchung am selben Abend alles getan, was ihrer Meinung nach nötig gewesen
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