Eiskalte Rache: Thriller (German Edition)
war, und der Gerichtsmediziner war sich seiner Sache ganz sicher gewesen.
Das hatte nicht gereicht.
Anklage wurde nicht erhoben.
Nach einigen Monaten hatte der Mann seinen Sohn zurückbekommen.
Dann war die Sache in Vergessenheit geraten. Sie hatte neue Fälle auf den Tisch bekommen.
Sie blätterte in den Fotos. Sie waren grell ausgeleuchtet. Man konnte die blauen Flecken deutlich erkennen. Sie nahm ein Foto nach dem anderen und betrachtete sie eingehend. Der Junge hielt stets die Augen geschlossen. Mit Ausnahme eines Fotos, auf dem er mit dem Blick eines alten Menschen und einer unergründlichen, vielleicht betrübten Miene geradewegs in die Kamera sah.
Die Akte war nicht sonderlich umfangreich, zwanzig Seiten einschließlich des ärztlichen Gutachtens. Weder mehr noch weniger. Sie hatte sie oft gelesen. Jetzt las sie sie ein weiteres Mal, genauso gründlich wie immer. Bevor sie die Mappe schloss, blieb ihr Blick auf der Todesanzeige hängen, die auf der Innenseite des Deckels klebte.
Schwarzer Rahmen, vergilbtes Papier. Das Bild eines Teddybären und darunter die Worte:
»Simon, du wurdest nur zwei Jahre alt. Jetzt hast du es besser. Wir vergessen dich nie. Großmutter und Großvater.«
Das war alles.
H oltz saß wieder in seinem Wagen. Er war Richtung Süden auf die Autobahn abgebogen statt nach Hause Richtung Norden. Es war ein spontaner Entschluss gewesen. Jetzt konnte er bereits die graublauen Baracken vor sich sehen. Sogar der Minivan stand dort, wo er bei seinem letzten Besuch gestanden hatte.
Er hatte nach Hause fahren wollen, aber dann hatte ihn ein tiefes Gefühl der Einsamkeit ergriffen, als er sich in sein Auto gesetzt und sein Handy hervorgenommen hatte. Drei Anrufe in Abwesenheit, alle von unbekanntem Teilnehmer. Es konnte sich um eine x-beliebige Person handeln, vermutlich einen Kollegen, Polizeibeamte vermieden es oft, ihre Telefonnummer preiszugeben. Es konnte aber auch Nahid gewesen sein.
Obwohl sein Haus der Ort war, an dem er sich am wohlsten fühlte, erschien es ihm plötzlich unmöglich, dorthin zu fahren. Seit Nahid ihn verlassen hatte, oder was es auch immer gewesen sein mochte, war alles aus dem Lot geraten. Seine Burg kam ihm nicht mehr so uneinnehmbar vor. Ihn überkam dort ein Gefühl der Unsicherheit, das er verabscheute. Stattdessen war er jetzt also kilometerweit in die falsche Richtung gefahren an einen Ort, den er bislang nur einmal besucht hatte. Warum, das konnte er sich nicht richtig erklären. Vielleicht war bei ihm plötzlich das Interesse am Bogenschießen erwacht.
Ulf Holtz’ Begeisterung für Sport war eigentlich sehr begrenzt, aber manchmal unternahm er einen ernsthaften Versuch, etwas Neues zu beginnen. Er hatte einen Kampfsport nach dem anderen ausprobiert. Eigentlich ging es ihm um Harmonie, und da er sich sehr für östliche Philosophie interessierte, hatte er sich im Laufe der Jahre für Judo, Aikido, Karate, Taekwondo und Kendo angemeldet. Die Faszination der Geheimnisse des Ostens hatte ihn vor Jahren auch dazu veranlasst, mit der Züchtung von Bonsais zu beginnen. Das Interesse an den kleinen Bäumen hatte er bewahren können, aber jeder Versuch, seine Leidenschaft für ostasiatische Philosophie mit Sport zu verbinden, war im Sande verlaufen.
Vielleicht war ja Kyudo, rituelles japanisches Bogenschießen, etwas für ihn. Da lag es doch wohl auf der Hand, sich von Marcus Koster beraten zu lassen, redete er sich ein.
Der Schnee lag schwer auf dem Tannenwald, der die Lichtung umgab, eine einsame Straßenlaterne führte einen aussichtslosen Kampf gegen das Winterdunkel. Der Lichtschein reichte gerade dazu aus, die beiden Fahrzeuge zu beleuchten. Er stieg aus seinem Wagen und ließ die Dunkelheit und die Stille auf sich wirken. Statt jedoch zur Tür der Baracke zu gehen, arbeitete er sich mit vorsichtigen Schritten durch den hohen Schnee um das Gebäude herum und hielt auf der Rückseite inne, wo sich ein weites Feld vor ihm ausbreitete. Er lehnte sich mit dem Rücken an die Baracke und spürte die ungehobelten Bretter durch die dicke Jacke. Er spähte über das Feld. Die Wolken zogen in rasendem Tempo über den Himmel, und hin und wieder fiel der Silberschein des Mondes auf die verschneite Wiese. Erst schwarz, dann silbern, dann wieder schwarz. Die Schießscheiben auf der Wiese erinnerten an Wesen von einem anderen Planeten, wie er sie in dem einen oder anderen Film gesehen hatte. Der Mond beschien sie einige Sekunden lang, dann verschwanden sie wieder.
Weitere Kostenlose Bücher