Eiskalte Rache: Thriller (German Edition)
beharrlich erwidert hatte, eine fast dreißigjährige Frau könne nicht zu Hause bei ihrem Vater wohnen. Das kleine Zimmer, das sie von einer diskreten und freundlichen Dame am Stadtrand mietete, genügte ihr, zumindest bis sie ihr Studium beendet hatte.
Und dies war nun der Fall.
Sie hatte während der letzten Jahre fast all ihre Zeit an der Universität verbracht, und etwas Glück und sehr viel Talent hatten ihr die Möglichkeit eröffnet, forensische Wissenschaft zu studieren. Sie hatte einen Abschluss in Biologie, Chemie und Technik, Fächer, die sie hauptsächlich im Hinblick auf die Forensik studiert hatte. Eigentlich war ihr erst durch das Praktikum bei der Polizei klargeworden, warum sie dieses Ziel verfolgt hatte. Erst war alles erschreckend und merkwürdig gewesen. Aber die Begegnung mit dem Chef der Kriminaltechniker Ulf Holtz und seiner Kollegin Pia Levin, die sie unter ihre Fittiche genommen hatten, hatte in ihr einen großen Wissensdurst ausgelöst und das Bedürfnis geweckt, mehr zu leisten und das Richtige zu tun.
Sie musste einen Entschluss fassen. Sie setzte sich wieder an den Computer und klappte ihn auf. Er fuhr ohne Proteste wieder hoch.
Die Buchung war soweit erledigt. Sie musste nur noch die letzten Ziffern ihrer Kontonummer eingeben. Das Feld, auf dem »Weiter« stand, verlockte sie, forderte sie förmlich zum Handeln auf. Langsam schob sie den Cursor auf dieses Feld. Der Pfeil hielt inne. Der Zeigefinger berührte das Touchpad nur ganz leicht, aber das genügte. Eine neue Seite wurde geladen, und die Mitteilung »Vielen Dank für Ihre Bestellung« erschien auf dem Bildschirm. Ein Gefühl der Erleichterung mischte sich mit einer gewissen Besorgnis.
Sie dachte an ihn.
Was geschehen war, war wirklich nicht geplant gewesen. Im Nachhinein konnte sie sich die Ereignisse nicht erklären. Sie konnte ihre Gefühle nicht ordnen. Lange hielt sie das Handy in der Hand, bis sie endlich die Nummer wählte. Er hob fast sofort ab.
»Hallo! Ich bin’s. Wir müssen uns sehen«, sagte sie.
E r hasste Dreck. Er mochte ihn genauso wenig wie Unordnung. Der vibrierende, graumelierte Boden unter seinen Füßen hatte Schmutzstreifen. Unter den Heizrohren, die an der Wand entlangliefen, lag der Staub fingerdick. Er wandte den Blick ab. Die Busreise nach Norden machte ihn beklommen. Ob es die schmutzigen Rohre oder die fleckigen Sitze oder der Verlust oder die Ungewissheit waren, die diese Unruhe in ihm auslösten, wusste er nicht, aber er kannte dieses Gefühl sehr gut. Die düsteren Gedanken ließen sich nicht vertreiben. Langsame, schwarze Wolken, die in ihm aufzogen. Aber jetzt waren sie mit Angst gemischt.
Die Landschaft zog am Busfenster vorbei. Wald, immer nur Wald. Es kam ihm vor, als sei eine Ewigkeit verstrichen, seit er letztes Mal die lange Reise nach Süden unternommen hatte, obwohl sie erst ein Jahr zurücklag.
Die Reise, die er gezwungenermaßen antreten musste. Die unausweichliche Reise.
Wie immer saß er allein. Am Fenster, der Platz neben ihm frei bis auf die Tasche, die er dort abgestellt hatte. Es setzte sich nie jemand neben ihn. Fast nie jedenfalls.
Die Frau aus Korea hatte es getan. Aber das war jetzt auch schon wieder lange her. Er war auf dem Weg zu einem dieser vielen Arzttermine in der Stadt gewesen. Als er die lange Busfahrt zum Krankenhaus zum ersten Mal allein unternommen hatte, war er zehn Jahre alt gewesen. Danach war er immer allein gefahren.
Er war vierzehn gewesen, als die Koreanerin aufgetaucht war. Inzwischen hatte er sich daran gewöhnt, dass niemand im Bus neben ihm sitzen wollte, und erst nicht begriffen, was sie wollte. Die dunklen, etwas schräg stehenden Augen sahen ihn freundlich an. Sie sagte etwas auf Englisch. Er verstand, dass sie neben ihm sitzen wollte, nahm zögernd seine Tasche vom Sitz und stellte sie zwischen seine Knie. Es war eng. Jetzt erinnerte er sich an seine Sorge, dass sie etwas sagen könnte, dass sie ihn in einer Sprache ansprechen könnte, die er nicht verstand. Aber sie hatte nur gelächelt und leicht mit dem Kopf genickt. Ein Nicken, wie er es noch nie gesehen hatte. Als würde sie gleichzeitig einen Knicks machen. Knickste, lächelte und nickte. Dann setzte sie sich neben ihn, ganz an den Rand des Sitzes, mit einer dünnen Tasche auf dem Schoß. Sie trug einen dunklen Rock und eine weiße Bluse unter einer dunkelblauen, kurzen Popelinjacke. Er starrte auf die Straße und zählte die Autos auf der Gegenfahrbahn. Beunruhigt. Sie saß
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