EISKALTER SCHLAF: Poesie des Bösen: Thriller (German Edition)
der Medici-Venus.
Er beobachtete, wie Selicz still seinen Blick über den formvollendeten Körper gleiten ließ. Er musste seinen brennenden Blick im Nacken gespürt haben, denn jetzt drehte er sich zu ihm um und blickte in die dunklen Gläser seiner eleganten Sonnenbrille.
Am Nachmittag besuchte die Gruppe die Galleria dell’ Accademia, die im 18. Jahrhundert eröffnet worden war, um den Studenten der Kunstakademie die Großartigkeit toskanischer Meister des 14. bis 16. Jahrhunderts vor Augen zu führen.
Hinter der eleganten klassischen Figur des David, der hier erstmals ohne den besiegten Goliath dargestellt wurde, behielt der Pole Selicz im Auge.
David schien auf Goliath zu warten, dachte er. Wie auch immer: Goliath hatte gegen David genauso wenig eine Chance wie Selicz gegen ihn.
***
Am Abend betrat er lautlos den Rasen der Hotelanlage, wo sich die Touristengruppe für die Nacht eingecheckt hatte. Er hatte sich in aller Stille in einem kleinen Café vorbereitet und sich nicht von der Geräuschkulisse ablenken lassen. Am Geschwätz der Leute hatte er kein Interesse. Die Märchen seiner Mutter, ja, die hatten Bestand, aber das Geschwätz war wie der Staub des Tages. Am nächsten Tag würde der Reisebus sicher verspätet nach Rom abfahren, denn ein Gast würde fehlen.
Es war dunkel, aber er kannte den Weg, er war ihn schon oft gegangen, auch in Gedanken. Er wusste, wo der Weg zum Appartement Nummer zwölf eine Kurve machte, als hätte er jeden Schritt auf den Millimeter genau ausgemessen. Er überließ nichts dem Zufall, denn er konnte sich keine Fehler leisten.
***
Zwei Stunden später. Das Glas der Fensterscheibe war kalt, obwohl die Luft so warm war. Regnerisch, das schon, aber warm. Die Scheibe beschlug ein wenig, als der Pole sie anhauchte. Dahinter sah er nichts, nur Schweigen. Er blieb stehen, vielleicht Minuten, vielleicht nur einige Sekunden, die Zeit wartete und dehnte sich.
Jetzt trat er näher ans Fenster, um besser sehen zu können. Es gab ein Bett, einen Tisch, einen mit Kleidern belegten Stuhl. Auf der Fensterbank eine Vase mit einer Blume. Drinnen bewegte sich etwas, das dort von der Decke hing. Ganz leicht. Sein Gesicht spiegelte sich im Fensterglas, glatt, emotionslos, eine ideale Projektionsfläche für die Poesie des Bösen, die sich hinter seiner Stirn abspielte. Er erinnerte sich an den lautlos wimmernden Mann auf dem Boden, dem er die Zunge herausgerissen und die Hoden abgeschnitten hatte. Danach folgte das Ritual des Gemüsehändlers: Der Kopf wurde gespalten, der Bauch aufgeschlitzt. Dort von der Decke hing nur noch ein zungen- und geschlechtsloses totes Objekt an einem Haken ...
Der Pole machte kehrt, ging lautlos durch das Gras davon und verschwand zwischen den Baumstämmen, um im Schutz des großräumigen Parks den in der Nähe des Taxistands befindlichen Ausgang zu benutzen und sich ins sechzehn Kilometer entfernte Pontassieve fahren zu lassen, wo er in einer kleinen Pension ein Zimmer gebucht hatte. Morgen würde er wieder nach Florenz zurückkehren, um seinen Wagen abzuholen. Er verbrachte nie eine Mordnacht in der Stadt des Tatorts. Er war ein Meister verwischter Spuren und ein Meister im Umgang mit der Zeit. Er war der Zeit davongelaufen. Das wusste er, seit er die Krasinski-Akte gelesen hatte. Er würde irgendwann nach München fliegen. Er wusste, dass er dorthin musste, denn immer wieder drängte sich ihm Maryam Krasinskis Bild aus der Prozessakte auf.
Aber er konnte warten, und in seinem Warten lagen die Geduld des Heimkehrenden und die entspannte Haltung eines Mannes, der Geist und Körper unter Kontrolle hatte.
Im Dunkel des Pensionszimmers in Pontassieve wanderten seine Gedanken zum nächsten unmittelbaren Ziel: Istanbul.
Kapitel 13
Sonntagabend
Im Traum stand sie unter der Dusche. Sie hörte das Rauschen des Wassers, das auf ihren Körper herabprasselte, doch sie vernahm auch die Stimme eines Mannes.
„Meine Erregung wächst bei deinem Anblick. Das prickelnde Gefühl strömt wie eine Droge durch meine Adern. Ob du dich im Keller zur Wehr setzen wirst? Was meinst du, Anna?“
Sie hauchte vor Entsetzen: „Ich mache alles, was du willst.“
Plötzlich saß sie an einem Tisch und beobachtete durch die offene Tür ein kleines Mädchen, das im Treppenhaus auf einer Stufe saß und einen Teddy fest an sich drückte.
Als ob es gespürt hätte, dass sie es beobachtete, blickte das Mädchen plötzlich auf. Ihre Augen begegneten sich. Sie wandte sich nicht verlegen
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