EISKALTER SCHLAF: Poesie des Bösen: Thriller (German Edition)
gestattet, den Polizeibericht über Katharinas Folter und Tod zu lesen, ebenso wenig hatte er ihnen damals Einblick in Annas Akte gewährt. Als Anna Wochen später sein Büro betreten hatte, um sich für ihre Rettung persönlich bei ihm zu bedanken, hatte er die Kommentare seiner Kollegen mitbekommen: So eine schöne Frau in den Händen des Psychopathen, der vorher ihre Schwester umgebracht hatte! Schaut euch diese Augen an, dieses lange blonde Haar und diesen Körper!
Anna Gavaldo war damals achtzehn gewesen, klein, zart, temperamentvoll, redselig, blond, eine blauäugige Elfe – bis Nicolas Giacomo Corelli ihr zauberhaftes Wesen zerstört hatte.
Er betrachtete das Schild an der Eingangstür der neurologischen Station 3 D: Die ihr hier eintretet, lasst alle Vernunft fahren. Nur dann bist du die Quelle des Trostes.
Als er ins Sekretariat ging und an das Pult trat, blickte Kreilers Mitarbeiterin auf.
„Sie sind bestimmt Kommissar van Cleef“, flötete sie und richtete den Blick auf die Karte, die er ihr reichte.
Er nickte.
„Professor Kreiler erwartet Sie bereits.“ Sie drückte den Knopf der Sprechanlage. „Kommissar van Cleef ist da.“
„Er möchte hereinkommen, Biggi.“
Sie zeigte auf die holzvertäfelte Tür. „Bitte, Herr Kommissar“, hauchte sie und rollte mit den Augen.
Wow! Bitte, Herr Kommissar! Was drei Worte und ein vielversprechender Augenaufschlag bewirken konnten! Er lächelte sie im Vorbeigehen an.
Drinnen reichte Jörg Kreiler ihm jovial die Hand. „Ich danke Ihnen, dass Sie sich die Zeit genommen haben, Herr Kommissar.“
Van Cleef nickte. „Die Worte, draußen auf der Tafel … interessant. Sie werden nichts dagegen haben, wenn ich mich von Berufs wegen nicht daran halte.“
Kreiler warf ihm ein abwartendes Lächeln zu.
„Welche Patienten behandeln Sie hier eigentlich, Professor?“
„Alzheimer im fortgeschrittenen Stadium, arthrosklerotische Senilität, eine Gruppe von Demenzen oder einfacher gesagt, nicht diagnostizierte Verwesung der Seele.“
Van Cleef schmunzelte wider Willen.
„Wir Neurologen nennen es auch den Gemüsegarten“, schob Kreiler nach.
Wirklich feinfühliger Haufen, diese Neurologen, dachte van Cleef.
„Mit anderen Worten: Wir versorgen leere Augen, schlaffe Münder und vollgesabberte Kinne. Fröhlich, immer fröhlich. Die Schwestern nennen die Patienten ‚Schatz’ und ‚Süße’ oder ‚mein Hübscher’. Das oberste Gebot lautet: Redet mit denen, die nie antworten.“
„Ja, ich weiß. Meine Mutter starb vor Jahren an den Folgen von Alzheimer“, sagte van Cleef leise.
„Das tut mir leid. Unglücklicherweise sind wir heute immer noch machtlos gegen diesen Zerfall der Hirnmasse. Vielleicht können wir in einigen Jahren hoffen –“
„Ja, vielleicht“, unterbrach ihn van Cleef. „Sie haben sich mit einer ungewöhnlichen Bitte an mich gewandt, Professor. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, wollen Sie Akteneinsicht, um Frau Gavaldo zu helfen?“
„Richtig. Ich werde sie hypnotisieren. Während der Sitzung werde ich mit Hilfe von gezielten Suggestionen und Trance-Szenarien und Symbolen ihre Einstellungen, ihr Erleben und ihr Verhalten, was die traumatischen Geschehnisse betrifft, umlenken. Deswegen sollte ich erfahren, was damals mit ihr geschehen ist.“
„Ich verstehe. Sie versetzen sie in diesen, äh, Trance-Zustand und erfahren, ob eine gewisse, äh, Persönlichkeitsspaltung vorliegt.“
Kreiler nickte.
„Aber was geschieht, wenn sie Dinge sieht, die sie gar nicht sehen will?“
„Dann wird die Trance behutsam und gründlich zurückgenommen, und Frau Gavaldos Wahrnehmung wird wieder von innen nach außen gelenkt“, antwortete Kreiler.
„Und wie lange dauert so was?“
„In der Regel nur einige Minuten.“
„Sind Sie sicher, dass Sie das Richtige tun? Wird es ihr nicht schaden? Ich meine, sie hat genug durchgemacht. Und diese Akte … Es sind gebündelte Grausamkeiten.“
„Ich kann Sie beruhigen. Im Rahmen meiner ärztlichen Schweigepflicht darf ich Ihnen keine Details über Frau Gavaldos Gesundheits- und Gemütszustand nennen. Aber so viel kann ich Ihnen sagen: Ihr geht es nicht besonders gut. Ich halte die Hypnose für unabdingbar. Wenn ein Therapeut erfahren genug ist und flexibel vorgeht, sprechen die meisten Patienten gut auf Hypnosetechniken an. Und …“ Kreiler blinzelte ihm direkt ins Gesicht, und er musste unwillkürlich an eine Schlange mit spiralförmig sprühenden Augen denken, „… Herr van Cleef,
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