Eiskaltes Schweigen
geworden, einem Freund. Und ein richtiger Freund lacht nicht, auch wenn man mal etwas Verrücktes sagt.
»Beten Sie oft?«, fragte ich ganz nebenbei.
»Jeden Tag«, erwiderte er eifrig. »Morgens, mittags und abends. Gott hat mir schon lang verziehen. Gott ist nicht nur gerecht, er ist auch gnädig. Die Menschen, die sind mir egal. Beten Sie auch?«
Ich seufzte. »Leider viel zu selten.« Das war immerhin nicht ganz gelogen.
»Sollten Sie aber«, meinte er besorgt. »Ohne Gott geht die Welt an den Teufel. Und sie ist schon ganz schön weit gekommen auf dem Weg. Es gibt nur noch wenig Gute. Man erkennt sie nicht immer gleich, aber es gibt sie. Noch.«
»Denkt Durian ähnlich wie Sie?«
»Der Michi, der ist ein Kluger. Der hat studiert. Früher hat er sogar Bücher gemacht. Er hat mir viel beigebracht, was ich nicht gewusst hab. Oft haben wir zusammen in der Bibel gelesen, und er hat mir Sachen erklärt, die ich nicht verstanden hab.«
»War das alles, was er gemacht hat? Gelesen und mit Ihnen geredet?«
Ruppkes Miene bekam etwas Verstocktes. Für Bruchteile einer Sekunde nur, aber es war mir nicht entgangen, obwohl ich es jetzt vermied, ihm ins Gesicht zu sehen. Ich steckte den Stiftein, beugte mich vor, fasste ihn jedoch nicht wieder an. Sofort sah er wieder auf den Tisch.
»Wissen Sie, ob noch mehr Menschen auf seiner Todesliste stehen?«, fragte ich sehr leise. »Gott sagt nämlich auch: Du sollst nicht töten. Die Rache ist allein Sache des Herrn, hat er die Stelle nicht mit Ihnen gelesen?«
Ruppke schien plötzlich kleiner zu werden. Ein paar Sätze noch, dann hatte ich ihn so weit. Hier war etwas zu holen. Ich war auf der richtigen Fährte.
»Wie viele stehen noch auf seiner Liste?«, bohrte ich nach, mein Gesicht nur noch eine Armlänge von seinem entfernt. Er roch nach billiger Seife und irgendwelcher Chemie, vielleicht einem Desinfektionsmittel. »Kennen Sie Namen?«
Ruppke kaute wie besessen auf seiner Unterlippe, starrte mit weiten, eisblauen Augen auf seine kräftigen Mörderhände. Ich erhob mich und trat ans Fenster. Wandte ihm bewusst den Rücken zu. Sollte er aufspringen, würde ich es hören und mich rechtzeitig wehren können. Zwischen massiven Stahlstäben hindurch blickte ich hinaus auf einen asphaltierten, regennassen Hof, in dem es nichts Grünes gab, kein Leben und keine Hoffnung.
Ruppke räusperte sich. Ich wandte mich um, lehnte mich gegen den leise summenden Heizkörper. Nach Sekunden wurde mir im Rücken zu warm, und ich ging zu meinem Stuhl zurück. Durch die schwere Tür hörte ich entfernte Männerschritte. Irgendwo, sehr weit entfernt, bellte ein groÃer Hund. Ruppke starrte immer noch auf seine Hände. Als irgendwo im Haus eine Tür ins Schloss fiel, zuckte er heftig zusammen. Manchmal schluckte er. Hin und wieder schüttelte er fast unmerklich den Kopf.
Die Tür öffnete sich, Vangelis streckte den Kopf herein und sah mich fragend an. Ich gab ihr ein Zeichen, die Tür schloss sich wieder.
Dann war es wieder still.
Ruppke schwieg immer noch.
»Haben Sie ihm eigentlich erzählt, was Sie getan haben?«, fragte ich, um das Schweigen zu brechen.
»Hm.« Sein Nicken hatte etwas Demütiges.
»Und was hat er dazu gesagt?«
»Der Michi, der hat mich verstanden, wissen Sie? Ich hab ihm alles ganz genau erklärt. Dass meine Frau eine Sau gewesen ist, dass aus meinen Kindern nichts Rechtes hat werden können, wenn ihre Mutter doch eine Nutte ist. Ein Kind, das getauft ist und in Unschuld stirbt, das kommt in den Himmel. Ich musst sie retten, es ging nicht anders. Ich hab das machen müssen, verstehen Sie?«
Er schien mein Nicken wahrzunehmen, ohne mich anzusehen.
»Ich â¦Â ich hab mir auch nicht mehr zu helfen gewusst. Auf einmal ist alles kaputt gewesen. Alles. Was soll denn aus Kindern werden, wenn sie von einer Nutte abstammen? Sagen Sie mir: Was? Und wie hätt ich sie groÃziehen sollen, ohne Mutter?«
Ich antwortete nicht. Ruppke erwartete keine Antwort von mir, er fragte sich selbst. Vielleicht tat er in diesen Minuten etwas, was er seit seiner Tat vor vierzehn Jahren nicht zugelassen hatte: er erinnerte sich. Vielleicht fragte er sich heute zum ersten, vielleicht auch zum hunderttausendsten Mal, ob richtig war, was er damals getan hatte.
»Wer ist der Nächste auf Durians Liste?«, fragte ich
Weitere Kostenlose Bücher