Eiskaltes Schweigen
Ironie. Ich hatte Hasstiraden erwartet, ein zorntriefendes Pamphlet, aber der Ton war und blieb sachlich. Dem Autor war durchaus bewusst gewesen, dass nicht allein die Welt schuld war an seinem Unglück, sondern auch er selbst. Dass manches hätte anders laufen können, wenn er als Verleger öfter an Geld und seltener an schöngeistige Literatur gedacht hätte. Die Ehe schien anfangs glücklich gewesen zu sein.
»Nicht schlecht geschrieben.« Vangelis legte die Gabel kurz aus der Hand und nippte an ihrem Johannisbeersaft.
Dann kam das Kapitel, das mit »A. Bialas« überschrieben war. Durian beschrieb haarklein und nun doch ein wenig detailversessen, wie es zu der unglücklichen Hypothek kam, wie er sich selbst die Sache schönzurechnen begann, wie Anita Bialas ihm dabei nach Kräften zuredete, seine aufkeimenden Zweifel immer wieder zerstreute.
»Es gibt Situationen im Leben, da hat man eine Wahl«, las Vangelis einen der Schlüsselsätze des Werks vor. »Meist hat man jedoch keine. Meist ist da nur die Illusion des freien Willens, der freien Entscheidung. Hier hätte ich anders entscheiden können. Und ohne diese Frau, die mich in ihrer stillen, verständnisvollen Art so sanft und nachhaltig im Sinne ihrer Interessen beeinflusst hat, immer mit einem Lächeln, immer mit den richtigfalschen Argumenten zur Hand, hätte ich mich zweifelsohne anders entschieden. Hätte ich die Finger von diesem Haus gelassen, auf dem kein Segen lag, wäre ich jetzt vielleicht ein glücklicher Mensch.«
»Da kommen einem ja die Tränen!« Vangelis sah kurz aus dem Fenster. Der Schnee schien mehr, der Regen weniger geworden zu sein, und minütlich wurde es dunkler. Das Bimmeln der Uhr an einem der Türme des nahen Barockschlosses verkündete die Uhrzeit. Trotz des leise gurgelnden Heizkörpers neben unserem Tisch hatte ich kalte FüÃe.
Kapitel zwei: »J. Karenke«. Auch dieser Teil war mir im Wesentlichen schon bekannt. Durian war maÃlos empört und verzweifelt gewesen, als seine immer noch glühend geliebte Irina sich â ausgerechnet im tiefsten Elend â von ihm abwandte, und ging in seiner Blauäugigkeit davon aus, dass Karenke sie natürlich verführt hatte, bestochen mit seinem vielen Geld und seinem Schmuck. Anders konnte es einfach nicht sein. Sie musste ihn doch noch genauso lieben wie er sie. Alles andere war undenkbar. Und deshalb hatte auch Karenke sein Leben verwirkt. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib.
Vangelis blätterte weiter.
Kapitel drei, »Y. Böttcher-Larue«. Dieser Teil von Durianspersönlichem Drama war neu für mich. Ich erfuhr, dass die Anwältin Durian in einer im Grunde unwesentlichen Sache vertreten hatte. Es ging um eine Druckereirechnung in Höhe von etwas mehr als dreitausend Euro. Durian hatte sich geweigert zu zahlen, da die gelieferten Bücher angeblich fehlerhaft waren. Vielleicht war er durch seine anderen Probleme auch ein wenig streitsüchtig geworden, und natürlich hatte er in seiner Situation kein Geld zu verschenken. So hatte er die Anwältin konsultiert. Diese hatte den Fall geprüft und Durian bestätigt, er sei im Recht. Daraufhin klagte man gegen die Druckerei. Und verlor. Auf Anraten der Anwältin ging er in die Revision und verlor erneut. SchlieÃlich blieb er nicht nur auf dem Rechnungsbetrag, sondern zudem auf Anwalts- und Gerichtskosten von weit über zehntausend Euro sitzen.
Das war das Ende gewesen. Danach gab es kein Halten mehr.
Eine Weile hatte Durian sogar die Obdachlosigkeit gedroht. Von seiner Frau und aller Welt verlassen, hatte er gehungert, ungezählte empörte und beleidigende Briefe an wen auch immer geschrieben. Sich mehr und mehr abgekapselt und verrannt. Jetzt gab es nur noch »die da drauÃen«, die ihn betrogen und belogen, und auf der anderen Seite ihn, den einsamen Gerechten. Aber selbst hier schimmerte hin und wieder eine Spur von Selbstironie durch. Durian war selbst jetzt noch in hellen Momenten bewusst gewesen, dass er in manchen Situationen hätte anders entscheiden können. Dass er seinen Verlag hätte rechzeitig schlieÃen können, kein Haus bauen, sich irgendeine Arbeit suchen.
»Aber was?«, las Vangelis und schob ihren halbleeren Teller zur Seite, um mehr Platz zu haben. »Taxifahrer? Nachtwächter? Müllmann? Schuhverkäufer? Mein Leben ist doch die
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