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El Silbador

El Silbador

Titel: El Silbador Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Berndt Guben
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unsere Seeräuber fast vergessen hatten, der ihnen aber jetzt wieder in Erinnerung kam.
    Ojo schlug ein Kreuz, und da er keine Waffe bei sich hatte, mit der er unter Umständen für die, welche er jetzt als seine Brüder ansah, kämpfen konnte, so faltete er die Hände und sagte: »Heilige Mutter Gottes, bitte für sie!«
    Und die anderen murmelten im Chor: »Heilige Mutter Gottes, bitte für sie!«
    Michel Baum hatte in der vergangenen Nacht kein Auge zugetan. Der Daj hatte ihm, dem Gesandten einer europäischen Macht, einen Raum zugewiesen, den man als Halle bezeichnen mußte. Dieser mit gemalten Fliesen und kostbaren Mosaiken ausgelegte Hallenraum schloß nach oben hin in den herrlichsten Bogenformen ab, die mit goldenen, roten und silbernen Ornamenten verziert waren. Statt der oberen vergitterten, fensterähnlichen Mauerdurchbrüche hingen Teppiche aus Smyrna an den Wänden. Der Saal war nach beiden Seiten hin offen, führte hier in einer Richtung auf den Innenhof und endete dort auf der anderen Seite in einem Säulengang. Trotz der glastenden Sonne lag er in einem wohltuenden Halbdunkel, und frische Luft durchströmte ihn wie ein labender Bergquell. Kleine, niedrige Tischchen waren längs des großen Wanddiwans aufgestellt, auf denen Michel alles fand, was Magen und Zunge begehrten. Nur etwas gefiel dem Pfeifer nicht: die weißen Mützen, die in unregelmäßigen Abständen immer wieder auf dem Hof oder im Säulengang auftauchten. Die Gesichter unter diesen Mützen spähten mit glühenden Augen nach ihm. Dann verschwanden sie für eineWeile. Sie störten nicht; fürwahr, der Daj hätte sie sicher totprügeln lassen, wenn ein einziger von ihnen auch nur ein wenig zu laut aufgetreten wäre. Aber sie waren eben da, und man konnte ihnen nicht entrinnen. Stunde um Stunde zergrübelte sich Michel den Kopf, wie er hier herauskommen könnte. Das war keineswegs einfach; denn er wollte weder seine Freunde noch sein kostbares Gewehr aufgeben. Seinen Degen hatte Eberstein an sich gebracht. Den würde er sich irgendwann einmal wiederholen. An das Gewehr jedoch band ihn nicht nur die Liebe zur Waffe, sondern auch die Mahnung des Grafen de Villaverde, es nicht aus der Hand zu geben, damit Unberufene nicht hinter das Geheimnis der Konstruktion kämen. Allah mochte wissen, wo es der Daj zur Zeit aufbewahrte.
    Michel schätzte, daß es ungefähr Mittag wäre, als er ein furchtbares, markerschütterndes Wehgeheul vernahm. Es klang wie das Schreien Gefolterter.
    Michel hatte die Ankunft der gefesselten Spanier nicht bemerken können, da kein Durchbruch in der Wand seines Gemachs den Blick auf die Straße freigab; sonst würde er vermutlich gewußt haben, wer diese gräßlichen Laute ausstieß. Obwohl der Palast des Daj ein riesiges Bauwerk war, hörte Michel das tierische Gebrüll mit seltsamer Klarheit.
    Jetzt verstand er sogar einzelne Wortfetzen: Flüche und--spanische Hilferufe.
    Was lag da näher als der Gedanke an seine Kameraden? Hatte man sie etwa in die Folter genommen, um. aus ihnen herauszupressen, was sie über ihn, Michel Baum, wußten? Aus des Silbadors Gesicht wich jede Farbe. Durfte er die Freunde um seinetwillen leiden lassen? Das schmerzverzerrte Gesicht des alten Korsarenkapitäns tauchte vor ihm auf. Er sah, wie Jardin die Augen aus den Höhlen traten. »Senor Doktor«, hörte er den tapferen Kleinen flüstern, »wie ist das nun mit der Menschlichkeit und mit der Freiheit? Wie vereinbart sich Menschenwürde mit dem, was ich jetzt erlebe?«
    Er sah Destes Gesicht vor sich: hart, verbissen, stumm! Und Ojos Gesicht: entsetzt, mit einem Zug von Gutmütigkeit und unschädlicher Brutalität.
    Und er fühlte die Gedanken aller: »Wird uns der Senor Doktor retten?«
    Wieder klangen die Schreie der Gefolterten an seine Ohren.
    Da! — War das nicht Jardins Stimme?
    Michel verlor alle Vernunft. Mit einem Wutschrei und drohend erhobenen Fäusten stürzte er dem Säulengang zu. Dort erschien in diesem Augenblick eine Janitscharenwache. Der Mann schien gewaltig zu erschrecken, so sehr, daß er vergaß, den Säbel zu ziehen und Alarm zu schlagen.
    Michels Gesicht bot in diesem Augenblick einen furchterweckenden Anblick. So stellte sich wahrscheinlich der Wächter den Propheten vor, als er seinen furchtbaren Fluch gegen diejenigen schleuderte, die ihn vernichten wollten.
    Ehe er sich's versah, war Michel heran und warf ihn nieder. Mit einem kräftigen Ruck riß er dem Soldaten die rote Janitscharenschärpe, an der der

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