Elena - Ein Leben für Pferde
aufmerksam und mit wachsendem Entsetzen zu.
»Sie waren die besten Freunde, bis zu dem Unfall«, schloss ich schließlich. »Dein Vater ist gefahren, aber später, bei der Polizei, hat er gesagt, Lajos hätte am Steuer gesessen. Der konnte sich an den Unfall nicht mehr erinnern, genau wie meine Eltern. Lajos wurde verurteilt, kam ins Gefängnis, und dein Vater hat deine Mutter geheiratet, die eigentlich Lajos’ Freundin gewesen ist. Lajos’ Mutter musste ihr Haus verkaufen, um das Geld für die Strafe aufzubringen. Und diese Geschichte ist der Grund, weshalb sich unsere Familien hassen.« Ich verstummte.
Tim war ganz blass im Gesicht, stützte die Ellbogen auf die Knie und starrte vor sich hin.
»Tim«, flüsterte ich zaghaft. »Das alles hat doch nichts mit uns zu tun, oder?«
Er blickte auf. Seine blauen Augen waren ganz dunkel, zwischen seinen Augenbrauen stand eine steile Falte.
»Nein«, murmelte er unglücklich. »Nein, das hat nichts mit uns zu tun. Wir können schließlich gar nichts dafür.«
Ich überlegte, was ich als Nächstes sagen konnte, welche Worte ich wählen musste, um das Thema anzuschneiden, vor dem ich mich so sehr fürchtete.
»Wenn wir jetzt nicht mehr mit Fritzi trainieren«, sagte ich leise, »dann könnten wir uns zum Beispiel bei Lajos treffen. Er würde uns nie verraten.«
»Unmöglich«, sagte Tim düster und senkte wieder den Kopf. »Lajos hat wegen meines Vaters im Gefängnis gesessen. Er wird mich hassen.«
»Nein, wird er nicht. Lajos ist nicht so«, entgegnete ich voller Überzeugung. »Er ist ein Freund von deinem Opa. Und er weiß doch, dass du nichts mit der ganzen Sache zu tun hast. Du kannst so wenig was für deine Eltern wie ich für meine.«
Tim schaute mich an. In seinem Blick glänzte ein leichter Hoffnungsschimmer.
»Ich hatte nie viele Freunde«, sagte er plötzlich und guckte unter sich. »Seitdem ich denken kann, sind wir jedes Wochenende auf dem Turnier. Und unter der Woche muss ich im Stall helfen. Ich bin schon früher nie auf einen Kindergeburtstag eingeladen oder gefragt worden, ob ich mit ins Schwimmbad will. Das hat mich eigentlich nie gestört. Ich fand die Leute in der Schule eh immer blöd und auf den Turnieren hatte ich meine Kumpel. Bei uns auf dem Hof war immer was los, mir hat nie was gefehlt. Aber jetzt … jetzt ist alles irgendwie anders.«
Er brach ab und es war ganz still, bis auf das Rauschen des Windes. Ich wartete gespannt darauf, dass er weitersprach.
»Unser Training mit Fritzi …« Tim suchte nach den passenden Worten. »Die Zeit mit dir und mit Melike … wir hatten so einen Spaß … und es war total aufregend… Ich hab mich jedes Mal echt drauf gefreut, hierherzukommen und … und …«
Jetzt würde er es sagen! Jetzt würde er mir sagen, dass es vorbei war. Für immer. Dass wir uns nicht mehr sehen konnten. Ich wappnete mich innerlich und nahm mir vor, stark zu sein und nicht in Tränen auszubrechen, egal, was er sagen würde.
»… und dich zu sehen«, vervollständigte er den Satz. Er holte tief Luft, hob den Kopf, und plötzlich sprudelte es aus ihm heraus: »Ich hab noch nie ein Mädchen wie dich getroffen, Elena. Du bist … du bist irgendwie … so… so … süß. Ach, ich weiß nicht, wie ich’s sagen soll, aber das ganze Leben wäre total scheiße, wenn wir uns nicht mehr sehen könnten, nur weil dein Vater jetzt von Fritzi weiß und weil dein Bruder mir aufs Maul hauen will und mein Alter deine Eltern hasst. Und … ich meine, ich … ich … also … ach, verdammt, Elena, ich liebe dich!«
Ich starrte ihn verständnislos an und vergaß fast zu atmen. Im nächsten Moment zog er mich in seine Arme und drückte seinen Mund auf meine Lippen. Die Welt hörte auf, sich zu drehen. Der Wind hielt den Atem an. Die Zeit blieb stehen. Er nahm seinen Mund von meinem, schmiegte sein Gesicht an meins. Ich ließ die Augen geschlossen und saß da wie versteinert.
»Ich weiß ja nicht, ob du mich auch gern hast«, flüsterte Tim. »Es ist voll schrecklich, dass wir uns immer nur heimlich treffen können, aber mir wär’s egal. Ich hab nur Angst, dass du mich jetzt nicht mehr sehen willst. Elena, nun sag doch auch mal was!«
Ich schlug benommen die Augen auf. Sein Gesicht war direkt vor meinem. Ich sah die süße Narbe an seiner Oberlippe, das Grübchen in seinem Kinn und die Zweifel in seinen Augen. Konnte es wirklich sein, dass er Angst gehabt hatte, ich wollte ihn nicht mehr sehen? Träumte ich das hier alles
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