Elfenkuss
»Es stimmt, nicht wahr?«
»Was?«
Sie zuckte schweigend die Achseln, zwang sich dann aber doch zu sagen: »Ich bin wirklich eine Elfe, oder?«
David lächelte nur und nickte.
Aus irgendeinem Grund fühlte Laurel sich besser. Sie kicherte. »Whoa.«
Als seine Mutter wenige Minuten später vorfuhr, rutschten sie hinten durch. »Oh, die Flügel sind auseinandergefallen«, sagte sie. »Gut, dass ich vorher schon Fotos gemacht habe.«
Laurel drehte sich schweigend um und hob zwei weitere Blütenblätter auf. Sie legte sie zu dem großen Haufen.
Kurz darauf fuhren sie bei Laurel vor, und David half
Laurel, die den Arm voller Blätter hatte, aus dem Auto. »Es sind nur noch fünf übrig.« Er musterte ihren Rücken. »Die fallen wahrscheinlich aus, wenn du schläfst.«
»Ha! Wenn sie es bis dahin schaffen.«
David sah sie an. »Bist du erleichtert?«
Laurel dachte darüber nach. »Schon irgendwie. Ich bin froh dass ich nichts mehr verbergen muss, außer vielleicht der Stelle, wo der Knubbel war. Ich freue mich darauf, wieder Tanktops zu tragen. Aber …« Sie zögerte und sammelte sich. »Heute Nacht hat sich etwas verändert, David. In den letzten Stunden hatte ich die Blume gern. Ich mochte sie wirklich sehr. Sie fühlte sich besonders und magisch an.« Sie lächelte. »Das war ein Geschenk von dir. Und ich … ich bin echt froh.«
»Aber du weißt, dass sie nächstes Jahr wiederkommt. Das hat Tamani gesagt, richtig?«
Sie runzelte die Stirn, als sie seinen Namen hörte.
»Wir könnten eine Tradition draus machen. Du kommst aus deinem Versteck und bist einmal im Jahr eine Elfe, die alle sehen können.«
Sie nickte. Die Vorstellung gefiel ihr besser, als sie es vor diesem Abend gedacht hätte. »Die anderen Mädchen werden neidisch sein«, warnte sie ihn. »Die wollen dann auch alle, dass du ihnen Flügel machst.«
»Dann muss ich ihnen wohl sagen, dass nur Laurel Flügel von mir bekommt. Wenn sie wüssten, wie wahr das ist.«
»Und du glaubst nicht, dass irgendwer dahinterkommt?«
»Könnte sein. Es gibt immer welche, die heimlich an Märchen und Sagen glauben, oder zumindest teilweise. Das sind aber Leute, die hinter die Oberfläche schauen und in dieser Welt Dinge sehen, die wahrhaftig wunderbar sind.« Er hob die Schultern. »Aber die sagen dann auch nichts, selbst wenn sie Bescheid wissen. Denn wir anderen, die die Welt unter logischen und wissenschaftlichen Gesichtspunkten betrachten, würden die Wahrheit nicht mal sehen, wenn sie an der Tafel stände. Ich bin echt froh, dass du sie mir brutal aufgedrängt hast – sonst hätte ich dich nie so gesehen, wie du wirklich bist.«
»Ich bin einfach nur ich, David.«
»Und das ist das Schönste daran.«
Bevor sie etwas sagen konnte, beugte er sich vor und küsste sie sanft auf die Stirn. Dann murmelte er »Gute Nacht« und ging zum Wagen.
Dreizehn
L aurel musterte über ihre Schulter hinweg ihren nackten Rücken im Spiegel. In der Mitte verlief eine schmale weiße Linie – wie eine lang vergessene Narbe -, die man kaum sehen konnte.
Sie seufzte, als sie sich ein Tanktop über den Kopf zog. Das war echt viel besser.
In der vergangenen Nacht war die Vorstellung, eine Elfe zu sein, so naheliegend gewesen, doch heute erschien sie ihr schon wieder wie von einem anderen Stern. Sie betrachtete ihr Gesicht eingehend im Spiegel, weil sie fast erwartete, anders auszusehen.
»Ich bin eine Elfe«, flüsterte sie. Ihr Spiegelbild gab keine Antwort.
Es war ein blödes Gefühl, das laut zu sagen. Sie fühlte sich nicht wie eine Elfe, sie fühlte sich überhaupt nicht anders als sonst, sondern völlig normal. Aber was sollte es, jetzt kannte sie die Wahrheit – und als normal konnte man ihr Leben von nun an nicht mehr bezeichnen.
Sie musste mit Tamani reden.
Laurel ging auf Zehenspitzen nach unten zum Telefon und rief David auf dem Handy an. Erst als er mit
schwerer Stimme dranging, merkte sie, wie früh es war. »Was?«
Jetzt konnte sie nicht mehr auflegen – schließlich hatte sie ihn schon geweckt. »Hi, sorry, ich habe nicht richtig nachgedacht.«
»Was machst du denn um sechs Uhr morgens?«, fragte er verschlafen.
»Äh, die Sonne ist schon aufgegangen.«
David schnaubte. »Natürlich.«
Laurel sah nach oben, wo die Tür zum Schlafzimmer ihrer Eltern einen Spalt offen stand, und bog um die Ecke in die Speisekammer. »Kann ich heute so tun, als wäre ich bei dir?«, fragte sie leise.
»So tun?«
»Ja, ich brauche eine Ausrede.«
Jetzt klang
Weitere Kostenlose Bücher