Elfenmeer: Roman (German Edition)
wusste, wer am Ende noch am Leben sein würde. Also küsste er sie noch inniger, verstärkte seinen Griff und presste die Augen fest zusammen, um einen Moment lang nichts anderes als sie wahrzunehmen. Ihren Mund, ihren Atem, ihren Körper, der sich an seinen schmiegte, als sie sich auf die Zehenspitzen stellte, ihre Hände, die seinen Rücken hinunterfuhren. Er wusste, es war nur ein Moment, doch zumindest hatte er in seinem Leben Momente wie diesen erfahren. Jetzt musste er nichts mehr fürchten.
Die Sonne stand bereits tief, als sie im Norden drei Segel ausmachten. Und obwohl Avree bei diesem Anblick Erleichterung verspürte, nahm die Anspannung in seinem Inneren noch zu. Der Kampf war nah. Nie zuvor hatte er sich vor einer Schlacht so unsicher gefühlt. Meist war er mit Euphorie und Tatendrang losgezogen, doch dieses Mal wusste er, dass er keine einfachen Handelsschiffe überfiel. Es war die königliche Flotte, und sie war stark. Er besaß keine magischen Kräfte mehr und wusste, was sie Nayla angetan hatten, zu was sie fähig waren. Er war vollkommen klar und bei Verstand. Und er hatte Angst.
Als sie näher kamen, erkannte Avree, dass Koralle das Meer geteilt hatte und immer noch Menschen ihr Hab und Gut über die Korallentreppe aus dem Palast nach oben schleppten. Zwischen Wasserfällen hindurch trugen sie ihre Beutel, die größer zu sein schienen als sie selbst, dabei hatte Avree den Eindruck, als käme der Großteil der Flüchtlinge auf Flosses Goldzahn unter.
Ein Blick über die Schulter verriet ihm, dass die Feinde so weit zurückgefallen waren, dass er deren Segel ohne Fernrohrnicht mehr ausmachen konnte. Doch das würde sich bald ändern.
»Segel reffen!«, hörte er Naylas Befehl, und alle begaben sich daran, das Schiff zum Ankern bereitzumachen. Auf den anderen Schiffen herrschte Aufregung, und alle blickten zur verloren geglaubten Widerstand und deren für tot gehaltenen Kapitänin. Jubelrufe brandeten ihnen entgegen, als sie die Goldzahn und Ewigkeit umschifften und schließlich nahe der Freiheit ankerten. Naylas und Avrees Namen wurden gerufen, sowohl von den Besatzungen als auch von den Menschen. Avree erkannte sogar Naylas Familie auf der Goldzahn , die wild winkte, doch im Moment hatten sie keine Zeit für eine Wiedervereinigung. Nayla schwang lediglich ihre Arme hoch über den Kopf und rief ihrer Familie zu, dass es ihr und Chip gutging, dann kommandierte sie auch schon ihren Bruder herum.
Avree ließ seinen Blick weiterwandern und entdeckte den Korallenfürsten an Deck seiner Freiheit . Auch die Königin sah er, die gerade den Niedergang heraufkam und ihren hochgehaltenen Kopf langsam in alle Richtungen drehte, um sich mit der ihr eigenen Überheblichkeit umzusehen. Der Tumult musste sie herbeigerufen haben, doch im Moment kümmerte die Königin ihn wenig. Sein Blick haftete auf Koralle, den er nie wiederzusehen gemeint hatte. Seinem ältesten und besten Freund, seinem Anführer und Gefährten. Sie waren wieder zusammen, hatten das Unmögliche vollbracht, und die Piraten waren wieder vollzählig.
Koralle nickte ihm zu, dann sprang er auf die Bordwand seines Quarterdecks und verneigte sich mit ausgebreiteten Armen vor ihm und Nayla. Sein goldenes Haar war wie meist zu einem Zopf geflochten, die offene Weste bedeckte den blassen Oberkörper nur spärlich, und doch wirkte Koralletrotz seiner hageren Gestalt majestätisch. Ohne in die Gefahr zu geraten, das Gleichgewicht zu verlieren, hieß er seine verloren geglaubten Kapitäne willkommen. Er war der Fürst, hatte sie so weit geführt. Avree hatte gefürchtet, nicht mehr zu den Piraten zurückzukehren, doch ihm war nun ein weiterer Kampf vergönnt. So tat er es seinem Fürsten gleich. Er winkte Chip ans Steuerrad, ergriff Naylas Hand und zog sie auf die Reling. Die Angst war allgegenwärtig, aber genauso intensiv verspürte er die Freude dieses Wiedersehens, auch wenn keine Zeit blieb, das Schiff zu verlassen, um mit Koralle von Angesicht zu Angesicht zu sprechen. Vielleicht war dies aber auch gut so, denn Avree wusste nicht, wie Koralle reagieren würde, wenn er erführe, dass Avree seine Magie verloren hatte. Der Piratenfürst würde es noch früh genug im Kampf bemerken, und für Vorhaltungen war danach immer noch Zeit.
So hielt Avree weiterhin Naylas Hand, und gemeinsam mit ihr verneigte er sich vor seinem Fürsten. Sogar Flosse fiel in das Ritual ein, und der Jubel nahm noch zu. Ein prickelndes Gefühl von Ehrfurcht breitete sich in ihm
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