Elfenschwestern
auf ihren Stuhl fallen.
Lily atmete einmal tief ein und aus. Dann sah sie wieder auf Jolyons Papiere hinunter. „Warum ist Gray nicht im Stammbaum verzeichnet?“, fragte sie so ruhig sie konnte. „Als Kate vor acht Jahren bei den Chronisten aufgetaucht ist, haben sie doch von uns allen erfahren. Von Lord Grays Kindern. Also warum haben die Chronisten die Ahnentafel dann nicht vervollständigt? Jolyon?“ Sie hob den Kopf.
Jolyon erwiderte ihren Blick. „Sie hielten es für zu gefährlich“, sagte er heiser. „Und wenn die Chronisten der Rose, die ihre Pflicht darin sehen, Fakten für die Nachwelt festzuhalten, schon ihre oberste Pflicht vernachlässigen, dann sollte euch das zeigen, wie ernst die Sache ist.“
Die Schwestern schwiegen erschrocken.
„Nun“, murmelte Rose, „wenn ich mir ansehe, was in den vergangenen Tagen so alles passiert ist, lagen sie da ja ausnahmsweise mal nicht so falsch.“
„Und warum sollte es zu gefährlich sein, Graysons Existenz zu enthüllen?“, fragte Lily. In ihrem Kopf arbeitete es weiter. „Weil Grayson der letzte Lancaster ist? Ist das der Grund für seine Entführung, Jol? Haben die Yorks Gray geholt, weil er der letzte Erbe ihrer Todfeinde ist?“
Jolyon fuhr sich mit beiden Händen durch sein dichtes Haar.
„Das werte ich als ein Ja“, bemerkte Rose. „Aber was haben die Yorks davon? Lösegeld? Oder Rache? Vielleicht hat unser Vater noch mehr Herzen gebrochen als unsere. Zuzutrauen wäre es ihm. Er hat selbst kein Herz, dieser Mann, so viel steht fest. Und kein Gewissen.“
Lily hoffte, dass das nicht stimmte.
Rose sah sie an. „Was tun wir jetzt?“
Lily schaute stumm zurück.
Roses finsteres Gesicht hellte sich auf. Sie nickte. „Finde ich auch.“
„Was?“, fragte Jolyon alarmiert. „Was wollt ihr tun?“
„Wir rufen unsere Tanten an“, entschied Lily. „Sofort. Gib mir den Brief, Rose, da steht unten eine Adresse drauf. Samt Telefonnummer. Wolltet ihr nicht Spione in jeden Yorkschen Haushalt einschleusen, Jolyon? Ich erstatte dir Bericht aus Englefield Park.“
„Nein.“ Jolyon stieß sich von der Spüle ab und hob abwehrend die Hände. „Das tust du nicht. Versteht ihr denn nicht, was das alles für ein Riesenschlamassel ist? Haben Webber und Kate euch nicht gesagt, dass ihr euch aus allem raushalten sollt?“
„Haben sie“, bestätigte Rose. „Und?“
Jolyons Augen loderten in kaltem, blauem Feuer. „Es ist zu gefährlich“, wiederholte er.
Rose schnaubte. „Was? Zu tanzen? Entschuldige, aber wir sind so leichtfüßig wie Elfen.“ Sie grinste über ihren eigenen Scherz.
Jolyon trat zu Lily und packte sie so fest bei den Schultern, dass es beinahe wehtat. „Mach das nicht, Tigermädchen“, sagte er eindringlich. „Ich bitte dich. Denk an die Rosenkriege: Lancasters und Yorks vertragen sich nicht, selbst wenn dieser blöde Debütantinnenball ein gesellschaftliches Großereignis ist. Musst du dich denn unbedingt in die Höhle des Löwen wagen?“
„Ja, ich muss“, gab sie leise zurück. „Für Grayson.“
Sein Blick flackerte. Lily meinte darin dasselbe zu sehen wie in der Nacht, als sie vom Dach der Bibliothek fiel. Angst. Schließlich sah er weg und ließ sie los. „Ich habe befürchtet, dass du das sagst“, sagte er grimmig.
Lily stand auf, griff nach dem Briefumschlag und ging in den Flur zum Telefon. Sie warf Jolyon noch einen Blick zu. Dann nahm sie den Hörer ab und wählte.
Teil 2
Nun weinte das Schwesterchen über das arme, verwünschte Brüderchen, und das Rehchen weinte auch und saß so traurig neben ihm. Da sprach das Mädchen endlich: „Sei still, liebes Rehchen, ich will dich ja nimmermehr verlassen.“ Gebrüder Grimm, „Brüderchen und Schwesterchen“
17
I ’ ll follow thee, and make a heaven of hell. ~ Ich folge dir, und finde Wonn ’ in der Not.
Es lag Neuschnee. Die Wälder von Yorkshire trugen schwer an ihrer weißen Last. Die Äste bogen sich bedenklich und immer wieder sah Lily im Vorüberfahren helle Wunden in der Baumrinde, wo Zweige nachgegeben hatten und lebendes Holz gesplittert und geborsten war.
Das passiert, wenn man mehr ertragen muss, als man aushalten kann, dachte Lily beklommen. Dann zerbricht man daran.
Unwillkürlich seufzte sie auf. Und weil der Motor des alten Bentleys so leise schnurrte, während der Wagen der verschlungenen Landstraße folgte, war Lilys Seufzer deutlich zu hören.
Ein schlanker Arm langte herüber und Lilys klamme Finger fanden sich sanft
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