Elfenschwestern
seufzte sehnsüchtig. Als Lily sie neugierig anschaute, gestand sie: „Auf die Allee freue ich mich immer am meisten.“
Gwyneth knurrte irgendetwas.
Grace lächelte. „Ich würde unser Heim nicht um alles in der Welt mit Englefield Park tauschen wollen, liebe Schwester.“
Gwyneth hob die Schultern. „Ich bin einfach ungern die arme Verwandte.“
„Kann ich verstehen“, sagte Rose leise. Und dann sagte sie: „Wow.“ Denn was sie aus der Ferne nicht hatte sehen können, breitete sich jetzt vor ihnen in ganzer Pracht aus.
Am Ende der Kastanienallee öffneten sich weite, weiß verschneite Rasenflächen. In einem akkurat abgezirkelten Kreis wurden sie von der Auffahrt durchschnitten. Auf dem Rondell thronte ein Springbrunnen mit erstarrten Wasserfontänen und in der trägen Bewegung des Badens eingefrorenen Steinnymphen. Dahinter erhob sich Englefield Park. Die Fassade hatte den bläulichen Schimmer von Schnee im Zwielicht, die hohen Fenster der drei Stockwerke blitzten in der Sonne wie vereiste Seen, die vielen Schornsteine und Figurinen hinter der steinernen Dachbalustrade trugen weiße Hauben.
„Das ist ja ein Palast“, flüsterte Lily. „Der Palast der Eiskönigin.“
„Des Eiskönigs“, berichtigte Gwyneth. Kies knirschte unter den Weißwandreifen des Bentleys, als sie den Wagen direkt vor der breiten Treppe anhielt, die sich zum Portal hinaufschwang. „Da steht er und wartet. Darf ich vorstellen? Der Duke of Ashford. Evelyn York.“
Der Duke stand mit den Händen in den Hosentaschen vor seinem Palast und sah aus, als gehöre ihm die Welt. Nun, dachte Lily, Englefield Park ist ja auch durchaus ein ansehnlicher Teil davon.
Grace packte den Türgriff auf ihrer Seite. „Komm“, sagte sie zu Lily und stieg anmutig aus dem Wagen.
Lily folgte. Die Luft war schneidend kalt, aber Lily atmete sie neugierig ein. Sie schmeckte den Rauch von Holzfeuern auf der Zunge und spürte ihn in der Nase kribbeln. Und was war dieser Hauch von Leder und Tabak? Der Duke.
Der Duke stieg die Stufen zu ihnen hinab, langsam, so wie ein Herrscher, der sich herablässt, sich unters gemeine Volk zu mischen. Hinter ihm tauchten Männer in Livree auf, eilten die Treppe hinunter und begannen nach gemessenen Verbeugungen, das Gepäck aus dem Bentley zu wuchten. Menschenmänner, dachte Lily, keine Fey.
Der Duke ignorierte seine Diener vollständig. Dafür beugte er sich formvollendet über Graces Hand. „Welche Freude, meine Teure“, sagte er. „Wir haben uns lange nicht gesehen.“
Grace verzog die perfekt rot gemalten Lippen zu einem strahlenden Lächeln. „Lord Evelyn. Du hast dich nicht verändert. Bist nur vornehm ergraut. Steht dir natürlich ausnehmend gut, mein Lieber.“
Lily blinzelte irritiert. Flirtete ihre Tante mit dem Duke? Aber sie war eine Lancaster und er ein York! Sollten hier nicht ein paar Fäuste geballt und Zähne gefletscht werden? Es sah nicht so aus.
Grace legte einen Arm um Lilys Schultern und winkte Rose herbei. „Evelyn, darf ich vorstellen? Unsere Nichten, Lord Grays Töchter, Wild Rose und Tigerlily Fairchild. Wir sind sehr stolz auf sie.“
„Zu Recht“, sagte der Duke galant.
Lily schätzte ihn auf um die fünfzig. Er war hager, hielt sich aufrecht, hatte grau meliertes, aus der hohen Stirn gekämmtes Haar, scharf geschnittene Züge, eine Nase wie ein Adlerschnabel und graue Augen, die bis auf den Grund ihrer Seele zu schauen schienen.
Lily brach der Schweiß aus. Sie musste sich zusammenreißen, um nicht knurrend in Abwehrhaltung zu gehen. Sofort war ihr klar: Sie, Lily, der Tiger, fürchtete den Duke of Ashford.
Der Duke wandte sich Rose zu.
„Ah“, sagte er gedehnt. „Sie hier sieht aus wie eine Lancaster. Die Augen, das Gesicht. Junge Dame, Sie könnten Ihr Erbe nicht verleugnen.“
Rose, makellos und schulmädchenhaft in weißer Bluse, dunkelblauer Strickjacke und Tweedrock, reckte das Kinn, warf dem Duke ihren eisigsten Wildrosenblick zu. „Das hatte ich auch gar nicht vor“, entgegnete sie kühl.
Gwyneth trat lachend neben sie. „Evelyn“, sagte sie heiter. „Rose ist nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich eine Lancaster. Also sei gewarnt.“
Der Duke lächelte nicht. Er ließ seinen beunruhigenden Blick noch einen Moment auf Rose ruhen, bevor er Gwyneth begrüßte. Ohne Handkuss, wie Lily bemerkte.
„Evelyn“, warf Grace hastig ein und rieb sich fröstelnd die Oberarme, „hast du etwas dagegen, wenn wir schnell nach drinnen gehen? Es ist wirklich
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