Elfenzeit 2: Königin des Schattenlandes - Thurner, M: Elfenzeit 2: Königin des Schattenlandes
meine Damen und Herren«, rief der Comedian in bestem Englisch, »stelle ich Ihnen das Werk Patrice Warreners vor. Er ist einer der großartigsten Lichtkünstler ...«
Abrupt wurde das Yorker Minster unter den Ahs und Ohs der Zuschauer in buntes Licht getaucht. Grelle Farben zeichneten jeden Winkel, jede Fläche und jeden Schnittpunkt in unglaublicher Präzision nach. Warme Töne gaben dem gotischen Gebäude in den Nachtstunden ein gänzlich anderes Aussehen, als es während des Tages gehabt hatte.
»Das Minster wirkt auf einmal so ... lebendig«, staunte Robert. »Man könnte glauben, dass es sich um echte Leuchtfarben handelt.«
»Das sind Projektionen«, las Nadja aus ihrem Programmführer vor. »Patrice Warrener ist Franzose, der hauptsächlich historische Gebäude neu beleuchtet. Europaweit waren die Außen- und Innenfronten der Kirchen in romanischem oder gotischem Stil ursprünglich angemalt. Erst im neunzehnten Jahrhundert ging man dazu über, den Stein nach Restaurationsarbeiten in seiner natürlichen Farbe zu belassen. Der moderne Europäer hat sich längst an das monochrome Aussehen der Kathedralen gewöhnt und könnte den ursprünglich in Ocker-, Rosé- und Rottönen gehaltenen Gebäuden nichts mehr abgewinnen.«
Eine Kirche, deren Sandstein gefärbt war? Robert versuchte, sich den Kölner Dom in Farben vorzustellen; es bereitete ihm eine Gänsehaut.
Nadja fuhr fort: »Warrener vermisst ein Gebäude aus verschiedenen Winkeln auf den Millimeter genau und fotografiert es tausende Male, bevor er sich an die Rechenarbeit am Computer macht. Die gewonnenen Daten werden nach monatelanger Schufterei auf Fotoplatten übertragen, nach Vorstellung des Künstlers eingefärbt und schließlich von einer versteckten Position aus auf das Gebäude geworfen. Warrener nennt das Verfahren
Chromolithe
.«
»Wirklich beeindruckend ... Sieh mal, da!«
Inmitten des Farbkaleidoskops, das die Spitzbögen, Rosettenfenster, das filigrane Säulensystem und die Strebepfeiler rings um das Westtor betonten, tauchte ein monochromer Schatten auf. Das Bild eines Mannes mit aufgeplusterter Oberbekleidung, gewelltem Hut und Spitzbart lugte neugierig zwischen den beiden eichenen Toren hervor.
»Das ist Guy Fawkes«, sagte Nadja, »wie er leibte und lebte.« Ihrer Stimme war anzumerken, dass sie der Lichtkünstler Warrener mit seiner Arbeit zutiefst beeindruckte.
»Kein besonders beeindruckender Bursche«, meinte Robert spröde. Er fühlte Kopfschmerzen aufkommen. Sie entsprangen an der Nasenwurzel, zogen sich immer weiter und immer intensiver über die Augenbögen hin bis zu den Schläfen. Die bildliche Darstellung des Attentäters weckte etwas in ihm, brachte die den ganzen Tag verdrängten Gedanken mit abrupter Plötzlichkeit zurück.
»Mir geht’s nicht gut«, murmelte er, »ich muss weg von hier. So rasch wie möglich.«
»Spinnst du? Zuerst schnappen wir uns diesen Warrener. Ich schätze, dass er dort oben«, sie deutete auf ein bürgerliches Haus, vielleicht fünfzig Meter entfernt, »seinen seltsamen Lichtprojektor aufgestellt hat. Ich interviewe ihn, und dann sehen wir zu, dass wir uns den Prinzen angeln. Ich habe ihn vor Kurzem im Backstage-Bereich der Bühne hervorlugen sehen. Ein Gespräch mit Andrew bringt mächtig Aufmerksamkeit – und damit auch viel Kohle.«
Ja. Nadja würde sich sprichwörtlich über alle Schranken hinwegsetzen und Zugang zum Prinzen finden. Daran bestand kein Zweifel.
»Ich muss gehen«, drängte er, »jetzt sofort!«
»Sicherlich nicht! Du bleibst hier und unterstützt mich bei der Arbeit ...«
Das fröhliche Gelächter der Menschen rings um ihn, der Klangteppich des Hintergrundgemurmels, die grellen Farben, die vereinzelten Aufschreie der Besoffenen, der böige Wind, der durch die Bäume fuhr ... Dies alles war zu viel, viel zu viel! Erinnerungen kehrten zurück, stürzten auf ihn ein und wollten ihn zu Boden drücken.
»Verzeih mir!«, sagte Robert und schob Nadjas Hand von seinem Arm. »Wir sehen uns morgen.«
Er drehte sich um und ging davon. Langsam, immer schneller werdend, bis er sich aus der ihn umschlingenden Fröhlichkeit der Menschen befreit, bis er die Festwiese hinter sich gelassen hatte und sich auf der gepflasterten Straße hinab zu den kleinen Gässchen der Stadt befand. Er nahm weiter an Tempo auf und stürmte durch das Labyrinth, achtete nicht weiter auf die Richtung. Weg, nur weg musste er, flüchten vor all dieser Ausgelassenheit, die abgrundtief falsch und schmerzhaft
Weitere Kostenlose Bücher