Elfenzeit 2: Königin des Schattenlandes - Thurner, M: Elfenzeit 2: Königin des Schattenlandes
Erinnerungen an schönere Zeiten festzuhalten. Hier war ihm keine Ruhe vergönnt. Jeder Schritt und jeder Atemzug erinnerte ihn an damals.
Robert wollte sich in Bewegung setzen, weiterlaufen. Blindlings und irgendwohin, bis hinab nach Dover, um von dort aus den Ärmelkanal zu durchschwimmen. Hauptsache, er kam raus aus diesem Land.
Er tat einen Schritt vorwärts – und musste augenblicklich wieder stehen bleiben. Seine untrainierten Oberschenkel waren verhärtet. Bereits jetzt spürte er einen Muskelkater. Morgen, so ahnte er, würde der Schmerz noch viel schlimmer sein.
Wenn es denn ein Morgen gab ...
Desinteressiert blickte sich Robert um. Neben dem Schaufenster der Fleischerei war ein Emailschild angeschraubt.
Little Shambles
, stand darauf. Er erinnerte sich, darüber gelesen zu haben: Die Shambles waren ein schmaler mittelalterlicher Straßenzug, dessen Hausdächer links und rechts beinahe zusammenstießen. Die Obergeschosse hingen weit über und sorgten auch während der Tagesstunden für Schatten.
Robert atmete tief durch und versuchte, Ordnung in das Chaos seiner Gedanken zu bringen. Er schämte sich für seine unüberlegte Flucht und für sein unbeherrschtes Verhalten. Normalerweise war er ein umgänglicher Mensch. Er sah zwar viele Dinge des Lebens negativ, doch Aggressionen, wie er sie soeben gezeigt hatte, waren ihm gänzlich fremd.
Sollte er zurückkehren und nach seiner Begleiterin suchen?
Nein. Unter all den Menschen würde er sie kaum finden.
Zuerst benötigte er etwas zum Trinken und womöglich ein wenig Gesellschaft. Seamus. Genau, der Kerl von der Fish-’n’-Chips-Bude war der Richtige für eine kleine Unterhaltung. Sie beide hatten nichts miteinander zu tun, und wenn er sich anstrengte, hatte Robert in einer Stunde denselben Alkoholspiegel wie der Engländer. Wo, hatte Seamus gesagt, würde er in den Nachtstunden sein? Ach ja: King’s Arms hieß das Pub, und es lag am Fluss Ouse.
Robert marschierte mit zitternden Beinen The Shambles entlang. Mit einem Mal fühlte er sich unbehaglich, so ganz allein. Hatte er durch seine Wütereien alle Menschen aus dieser Gasse, die normalerweise von Horden von Touristen bevölkert wurde, vertrieben?
Entlang des Weges, der leicht bergab führte, kam ihm eine Gruppe kichernder Frauen entgegen. Auch sie hielten lange Kerzen in den Händen und wurden von einem weiß geschminkten Mann angeführt, der mit verkniffenem Gesicht eine Geschichte erzählte. Er wirkte gelangweilt und erzählte vom Martyrium einer Bürgerin namens Margaret Clitherow, die im 16. Jahrhundert in The Shambles gelebt hatte und wegen ihres katholischen Glaubens von fanatischen Anglikanern hingerichtet worden war. »Auch heute noch«, so erzählte der Mann mit erhobenem Zeigefinger, »wandert Margaret, die neunzehnsiebzig von Papst Paul dem Sechsten heiliggesprochen wurde, durch diese Straßen, um die Rechtschaffenheit ihrer Bewohner zu überprüfen ...«
Robert entsann sich, dass York sich rühmte, die höchste Gespensterdichte aller Städte auf der Welt zu besitzen. Es gab Dutzende Touristenführer, die sich darauf spezialisiert hatten, zahlende Gäste mit Schaudergeschichten zu unterhalten, während sie sie durch die Stadt trieben. Zu Guy Fawkes hatten diese Unternehmen sicherlich Hochbetrieb.
Er verließ The Shambles und gelangte in weitaus dichter bevölkerte Straßen. Hier reihte sich Pub an Pub. Überall standen Menschen umher und prosteten sich fröhlich zu. Die Vertreterinnen der Darby O’Gill Distillery eilten in ihren weißen Dressen und mit einem dauerfröhlichen Zahnpastalächeln im Gesicht umher. Sie verteilten Springwater-Fläschchen und scherten sich nicht weiter um das Protestgeschrei der Pub-Besitzer. Vor allem jüngere Gäste und Frauen nahmen die Alcopops gerne entgegen, während die gesetzteren Herren beim dunklen Bier blieben.
Sollte er sich nun eines der Getränke beschaffen und kosten? Robert zuckte mit den Schultern. Seine journalistische Neugierde, seit langer Zeit nur noch schwach ausgeprägt, war vollends erloschen. Sollte sich Nadja um Darby O’Gill und sein rosarotes Gesöff kümmern.
Während er seinem Orientierungssinn folgte und immer weiter zum Ouse hinabgelangte, wich er den Menschenströmen, so gut es ging, aus. Bald tauchte Micklegate Bridge vor ihm auf. Das Wasser des Flusses Ouse war ruhig. Die Lampen der Uferpromenade erzeugten silberne Lichtfäden auf der sich verwirbelnden Oberfläche. Ein Schnellboot glitt flussaufwärts. Die Bugwellen
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