Elfenzeit 2: Königin des Schattenlandes - Thurner, M: Elfenzeit 2: Königin des Schattenlandes
sich in engen Stallungen halten lässt. Schafe und Waldrinder.
Das erste Jahr vergeht. Ein Wanderer, der sich dank kleiner, aber wichtiger Handelswaren ein bescheidenes Leben erwirtschaftet, entdeckt den Stamm. Er tauscht Haken, Gemmen sowie Speerspitzen gegen gegerbtes Leder, und er verspricht, in regelmäßigen Abständen wiederzukommen.«
Darby O’Gill seufzte entrückt. »Was auch immer die Kelten dazu bewogen hat, ausgerechnet hier ein provisorisches Lager aufzubauen – sie beschließen nun zu bleiben. In ihrer seltsamen, gutturalen Sprache geben sie dem Platz, an dem sie siedeln, eine Bezeichnung. Ein einfaches Wort, das ihre neue Heimat am besten beschreibt. An einem der letzten großen Bäume, die im spitzen Winkel zwischen den beiden Flussbetten übrig geblieben sind, ritzen sie Zeichen ein.«
O’Gill zog Nadjas Hand mit sich und ließ sie über eine Stelle weiter unten, in Kniehöhe, gleiten. Sie spürte zwei ineinandergeschnittene Rauten, um die ein Kreis gelegt worden war.
»Dieser neue Ort sollte ›Platz der Eibenbäume‹ heißen. Oder, um im Keltischen zu bleiben:
Eborachonn
. Die Römer lateinisieren später diesen Begriff und nennen den wachsenden Ort
Eboracum
. Angelsachsen, die die Besatzer vertreiben, formen den Begriff
Eoforwic
, der ähnlich klingt, aber eigentlich
Wildschweinstadt
bedeutet. Erst die nächsten Besatzer, wilde Wikingerstämme aus dem heutigen Schweden, vergeben einen eigenständigen Begriff. Sie nennen den Fleck
Jorvik
, was in den nordischen Sprachen so viel wie
Pferdebucht
bedeutet. Erst die einfallenden Normannen etablieren nach ihrer Invasion im Jahre 1066 den letztgültigen Namen York ... «
Nadja fand in die Wirklichkeit zurück, in das überfüllte, von Rauchschwaden durchzogene Lokal. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Was war mit ihr geschehen? Die Bilder, die sie vor ihrem geistigen Auge gesehen hatte, waren so intensiv und deutlich gewesen, dass sie gemeint hatte, selbst ein Mitglied dieses keltischen Stammes gewesen zu sein. Sie hatte Blütenduft gerochen, rauchiges Feuer und die Ausdünstungen der Tiere, die durch die Ansiedlung getrieben worden waren ... Diese Reise durch die Zeit, zum Ende hin stark gerafft vorgetragen, hatte Nadja beeindruckt.
»Nimm noch einen Schluck«, empfahl Darby O’Gill und reichte ihr das Glas. Sie nippte daran und genoss die innere Wärme.
Eine seltsame Hitze in Nadjas Nacken erschreckte sie. Sie stieß sich vom zerkratzten und zerschnittenen Holzstamm ab und setzte sich hin.
»Und?«, fragte ihr Gegenüber. »Gefällt dir meine Geschichte?«
»Ehrlich gesagt weiß ich nicht recht, was ich damit anfangen soll. Sie klingt wie eine wahre, überlieferte Schilderung, die all die Jahrtausende überdauert hat. Aber das ist unmöglich ...«
»Ist es das?« Darby O’Gill lächelte. »Wir befinden uns in England; in jenem Land, das seine Historie wie kein anderes lebendig hält und pflegt. Denk an den Kreis der Artussagen, die selbst heute noch Schriftsteller im Dutzend inspirieren. Denk an die Erzählungen um Richard Löwenherz und Maid Marian. Oder an all die Märchen um Elfen und Feen, das Kleine Volk und Kobolde. All dies besitzt einen wahren Kern oder einen gewissen historischen Hintergrund.«
Nadja hielt die Luft an. War dies Zufall, oder wusste Darby aus welchen Gründen auch immer über Rian, David und die Anderswelt Bescheid?
Was für ein seltsamer Kerl! Mit allem, was er tat und sagte, brachte er sie in Verlegenheit und kratzte an ihrer Selbstsicherheit.
»Ich bin Journalistin.« Mühsam fand Nadja zu sich zurück. »Ich benötige Fakten und Wahrheiten, um
glauben
zu können. Was du mir erzählt hast, ist meiner Meinung nach ein schönes Märchen ...«
»Das sind die Ansichten der
Journalistin
«, unterbrach sie Darby. »Was aber sagt die
Frau?«
»Dass du ein charmanter, aber auch ein sehr manipulativer Mensch bist. Du tust alles, um mich um den Finger zu wickeln.« Nadja lächelte unverbindlich. »Ich vermute, dass du diese Begabung im Geschäftsleben ausnützt.«
»So unverblümt wie möglich.« Darby O’Gill erwiderte ihr Grinsen. »Es hat aber weniger mit Charme als mit echter Leidenschaft zu tun. Was auch immer ich mache – es kommt aus dem Herzen.«
»
Das
soll ich glauben?«
»Vertraue einem alten Mann wie mir.«
Darby O’Gill mochte vierzig Jahre alt sein und damit nicht viel jünger als Robert. Aber was für ein Unterschied war zwischen den beiden zu erkennen! Dort ihr treuer Fotograf, Robert, der
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