Elfenzeit 6: Die wandernde Seele - Thurner, M: Elfenzeit 6: Die wandernde Seele
Fleisch meines Freundes. Entlang der Hand- und Fußgelenke zogen sich eine Vielzahl von dünnen Strähnen. Zudem sah ich Blasen, Entzündungen und schwärende Wunden. Man hatte ihn schon unzählige Male ans Bett gefesselt und seine Verletzungen nur mangelhaft gepflegt.
Guirdach war ein Schwert, dem kaum ein Bann widerstehen konnte. Vorsichtig setzte ich die Klinge an den Fäden an – und durchschnitt sie wie Butter.
»Danke«, ächzte Laetico. Erleichtert rieb er sich die blutrot unterlaufenen Gelenke. »Dennoch: Du hättest niemals zurückkehren sollen.«
»Lass das mal meine Sorge sein. Zuallererst kümmern wir uns darum, aus diesem ... Gefängnis zu entkommen.« Ich riss die Tücher von den Fenstern. Trübes Nachtlicht hing über dem Land, und die Butzengläser warfen buntes Licht ins Innere von Laeticos Schlafraum.
Die Drehverriegelungen widerstanden all meinen Versuchen, sie zu öffnen. Als ich mit dem Knauf Guirdachs gegen das Glas stieß, sprühten magische Funken auf. Sie prellten mir die Waffe aus der Hand und betäubten meine Fingerspitzen.
»Es gibt kein Entkommen«, wiederholte Laetico. Er hatte sich mittlerweile aufgerichtet. Behutsam wusch er die Wunden an den Gelenken aus, dann tauchte er das Gesicht in die bereitstehende Schüssel aus getriebenem Silber. »Seit dem Moment, da du aus unserem Reich verbannt wurdest, arbeitete Eirinya auf diesen Augenblick hin. Sie hatte nahezu endlos viel Zeit, um sich Pläne zurechtzulegen und sie auszuführen.«
Ich hörte nicht auf ihn. Zu lange hatte ich unter Menschen gelebt, um nicht auf das Unmögliche zu hoffen. Eirinya hatte stets als heimliche Herrscherin des Königreichs gegolten, und sie hatte mir gegenüber offen zugegeben, ihren Mann Golpash wie ein Hündchen zu halten. Ich wusste auch um ihre überaus starken magischen Fähigkeiten. Doch ich war nicht willens, klein beizugeben. Also klopfte ich gegen Wände, gegen Türen, gegen Boden und Decke. Immer wieder, immer heftiger werdend. Höhnisches Gelächter antwortete mir aus den Nebenräumen, und mehr als einmal konnte ich die Kraft von Eirinyas Bann- und Verschlusszauber spüren. Irgendwann gab ich auf. Die Königin hatte Laetico und mich in der Tat festgesetzt.
Ich hockte mich hin und betrachtete meine verbrannten Fingerspitzen. Zwischen den Fingerrillen wuchsen kleine Knoten hervor, die leise explodierten und Blütensamen in die Luft schossen, der sich wiederum in den Hautfalten an Händen und Armen festsetzte. Binnen Kurzem war ich über und über von bunten, duftenden Blüten bewachsen. Eirinya bewies einen besonderen Sinn für Humor.
»Also erzähle«, verlangte ich von Laetico, während ich das Blütenmeer mithilfe von Guirdach von meiner Haut raspelte. »Warum hat uns deine Stiefmutter das angetan?« Wieder blickte ich in das schrecklich entstellte Gesicht meines Elfenfreundes. Ich glaubte, dass die hölzernen Augäpfel jeden Moment aus ihren Höhlen purzeln könnten.
»Warum wohl?« Laetico zuckte die Achseln. »Der Urteilsspruch über uns beide war ihr nicht hart genug. Sie wollte dich tot sehen – und mich ebenfalls, nachdem ich dich beschützt hatte.«
»Wo befindet sie sich derzeit?«
»Auf ihrem Sitz nahe König Fanmórs Hof. Sie hat einen hohen Posten in der elfischen Diplomatie eingenommen und muss regelmäßig ihren Verpflichtungen im Baumschloss nachkommen. Doch es ist besser, wenn ich am Anfang beginne.« Laetico stand auf und begann eine unruhige Wanderschaft durch sein Zimmer. Dabei schüttelte er Arme und Beine durch, um die Blutzirkulation anzuregen. Er vermied es, mir sein Gesicht zuzuwenden. »Eirinya besuchte mich kurze Zeit, nachdem ich im Baumschloss meinen Dienst angetreten hatte. Ich erledigte dort die niedrigsten Arbeiten, wie es von mir erwartet wurde. In den Wurzelkloaken, in den Gerbereien, beim Reinigen der Spucknäpfe der Zwerge. Die Königin brachte mir Nachricht, dass mein Vater gestorben sei. Er sei an einem im Rachen quer liegenden Knochen erstickt, teilte sie mir mit, und es sei unabdingbar, dass ich zurück nach Hause käme. Meine Verbannung sei aufgehoben, sagte sie, denn das Königshaus brauche einen Thronfolger.«
»Hat sie deinen Vater umgebracht?«
»Eirinya gab es niemals offen zu, aber ich gehe davon aus«, sagte Laetico emotionslos. Wie es von einem Elfen erwartet wurde.
»Was geschah weiter? Als du nach Tiollo zurückkamst.«
»Ich kehrte mit der nicht allzu sehr trauernden Witwe zurück, ordnete die Erbschaftsangelegenheiten, ließ mir die
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