Elina Wiik - 03 - Der tote Winkel
unsere Arbeit so aus, dass wir jeden noch so kleinen Widerspruch in ihren Berichten finden sollen, um die Flüchtlinge als unglaubwürdig abstempeln zu können.«
»Was hat das für Konsequenzen für die Flüchtlinge?«
»Dass die Gründe, die sie für ihren Antrag nennen, nicht genügen. Also Abschiebung. Jamals Fall ist ein Beispiel dafür. Niemand ging der Frage nach, ob die Israelis wirklich nach ihm fahndeten. Und als die Behörde schließlich ein Dokument erhielt, das dieses Faktum bestätigte, beachtete es niemand. Man legte das Dokument einfach zu seiner Akte. Erst als die Medien von diesem Dokument erfuhren, wurde der Abschiebungsbeschluss aufgehoben.«
»Und wie konnte die Länstidningen davon erfahren?«
»Keine Ahnung. Das ist wirklich rätselhaft, nicht wahr?«
»Dann danke ich Ihnen für diese Antworten.«
Elina erhob sich und ging.
Mit ihrem Dienstwagen fuhr Elina nach Tensta. Diese Gegend war ihr fast vollkommen unbekannt. Wie so manch anderer hatte sie jahrelang in Stockholm gelebt, ohne sich sonderlich oft in die Vororte der Stadt zu begeben. In den Stadtzentren von London, Athen oder New York kannte sie sich besser aus als in Tensta. Mit Hilfe eines Stadtplans fand sie die Adresse.
Die Wohnung war über einen Balkon zu erreichen. Es war die letzte Tür. Elina musste auf dem Weg ein paar Satellitenschüsseln ausweichen. Das Glas über dem Namen Ahmed Qourir auf dem Briefkastenschlitz in der Tür hatte einen Sprung.
Nachdem Elina dreimal geklingelt hatte, zog sie eine Visitenkarte aus der Tasche und schrieb darauf: »Bitte rufen Sie mich an!« Dann steckte sie sie in den Briefkasten.
Auf dem Weg zurück zum Auto sah sie ein paar verschleierte Frauen mit schweren Einkaufstaschen und einem Rudel Kinder. Die Männer trugen Schnurrbärte. Sie fragte sich, wie Ahmed Qourir wohl aussah.
Sie schaute gen Himmel. Es war bewölkt. Ihr Magen rumorte. Jetzt stand ihr noch das Schlimmste bevor.
Elina klingelte, obwohl sie einen Schlüssel besaß. Anton öffnete. Er beugte sich vor und küsste sie leicht auf den Mund. Von seiner früheren Selbstsicherheit war nichts übrig.
Sie blieb bis zum Morgen. Die letzten Stunden schlief sie auf seiner Couch, er lag daneben. Er hatte geweint, gefleht, ihre Gründe hinterfragt, war wütend geworden und hatte wieder geweint. Er hatte seinen Kopf in ihren Schoß gelegt, und sie hatte ihm das Haar gestreichelt, hatte aber nicht nachgegeben. Es war Schluss. Sie legte den Schlüssel auf den Küchentisch, bevor sie ging.
10. KAPITEL
Die Wohnung wirkte unbewohnt. Das Schlafzimmer war trostlos. Sie legte sich in Kleidern aufs Bett und schlief traumlos ein.
Zwei Stunden später erwachte sie. Sie machte sich fertig, legte die Kleider vom Vortag in die Waschmaschine, begab sich ins Präsidium und klopfte an John Roséns Tür.
»Es ist halb elf«, sagte er. »Ich habe mir schon überlegt, wo du bleibst.«
Sie antwortete nicht. Er sah ihr an, dass die Angelegenheit persönlich war.
»Wie ist es gestern gelaufen?«
»Yngve Carlström von der Migrationsbehörde hat bestätigt, dass ihn Jamal wegen seines verschwundenen Cousins angerufen hat. Carlström konnte ihm nicht helfen.«
»Warum hat er sich ausgerechnet an Carlström gewandt?«
»Ich glaube, Carlström war es, der das Dokument, das Jamal vor drei Jahren rettete, an die Länstidningen weitergeleitet hat. Ich glaube, dass er das getan hat, weil er etwas mehr Mitgefühl mit den Flüchtlingen hat, als den Politikern recht ist. Und ich glaube, dass Jamal von Agnes Khaled zu Carlström geschickt worden ist.«
»Noch etwas?«
»Ahmed Qourir war nicht zu Hause. Wir wissen also immer noch nicht, wieso ihn Jamal angerufen hat.«
»Schlussfolgerungen?«
»Keine.«
»Was hast du jetzt vor?«
»Ich will versuchen, Ahmed Qourir aufzuspüren, diese Nummer in Moskau anrufen, mit Jamals Eltern in Gaza Kontakt aufnehmen und sie nach Sayed fragen. Sonst fällt mir nichts ein. Wie läuft es bei den anderen?«
»Wir haben Annikas Eltern endlich vernehmen können. Sie sagen, dass sie das Ganze nicht begreifen. Enquist hat mit ihnen gesprochen. Sie seien vollkommen am Boden zerstört gewesen. Er hat nichts Verwertbares in Erfahrung gebracht. Svalberg und ich haben mit einem Dutzend Leute gesprochen, die Annika und Jamal kannten, Kollegen und so. Mit dem gleichen niederschlagenden Ergebnis.«
»Und die anderen? Die im Nachbarzimmer?«
John Rosén verzog den Mund.
»Das musst du sie schon selbst fragen. Ich habe nicht
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