Elli gibt den Loeffel ab
in denen ihre Mutter alle glauben machte, dass sie eine glücklich verheiratete Frau sei, bis hin zu nichtssagenden Weihnachts- und Osterkarten.
Wütend schob Dorothea den Briefstapel zusammen und steckte die Kuverts zurück in die Kiste, in der sonst nur noch die Korrespondenz mit Krankenkassen, dem Finanzamt, dem Vermieter und Ähnlichem lag. Hoffentlich wurde der heutige Tag produktiver. Schließlich konnte sie nicht ihr halbes Leben auf dieser Insel vertrödeln.
So warm und kuschlig war es schon lange nicht mehr im Bett gewesen. Anja schlug die Augen auf und verfluchte das helle Licht der Morgensonne. Bleierne Mattigkeit, ihr Tribut an eindeutig zu wenig Schlaf, vertrug sich nun mal nicht mit Morgenfrische. Erst einmal aufsetzen. Es blieb bei dem Versuch, denn irgendetwas hielt sie fest. Ein dritter Arm? Ein Männerarm! Wie auf Knopfdruck setzte sich ihr Kopfkino in Bewegung. Paolo! Fest. Limoncello. Getanzt. Garten. Mond. Romantik. Ein Kuss und dann der Filmriss.
»Guten Morgen, Häschen.« Paolos gutgelauntes Lächeln, als er mit der Hand zärtlich an ihrer Schulter entlangfuhr und ihr Haar zur Seite schob, bedurfte keiner weiteren Erklärung.
Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie nackt war, und der Körper, der sich eben gerade an sie schmiegte und im unteren Bereich plötzlich ein Eigenleben entwickelte, machte ihr klar, dass Paolo zwangsläufig ebenfalls nackt in ihrem Bett lag.
»Hast du gut geschlafen?«
Anja nickte eingeschüchtert. Nach und nach dämmerte ihr, dass er sie zurück zur Pension gebracht hatte. Dann ein Kuss — ein ziemlich intensiver — , ungefähr so einer wie der, den Paolo ihr gerade zärtlich auf den Mund drückte, den sie aber im Moment nicht erwidern konnte.
Natürlich fiel ihm das sofort auf. »Alles okay?«
Sie wusste es nicht. Instinktiv zog Anja die Decke ein Stück nach oben. Warum schämte sie sich nur für ihre absolut nicht makellose Figur und versuchte sich einzureden, dass dies für ihn bestimmt nur ein einmaliger Unfall war, der dem Alkohol zuzuschreiben wäre? Wenn sie selbst in den Augen ihrer Sachbearbeiterin im Jobcenter zu fett für repräsentative Aufgaben in einem Warenhaus war, konnte sie unmöglich auf die große Liebe eines solchen Mannes hoffen. Warum nur ließ er nicht locker? Paolo streichelte sie vom Hals an abwärts, und sein Lächeln, die Art, wie er ihren Körper spielerisch verwöhnte, hatte ganz und gar nichts mehr mit einem Unfall zu tun. Augen schließen und genießen!, befahl sie sich.
»Hör nicht auf. Es ist so schön«, hauchte sie ihm mit wachsender Zuversicht, dass er sie auch in nüchternem Zustand begehrenswert fand, ins Ohr.
Er hörte tastsächlich nicht auf. Anja spürte, wie sie sich zunehmend entspannte und langsam in einem warmen See des Vertrauens versank.
Auf der Terrasse roch es nach Urlaub in einem Fünfsternehotel. Fabrizio hatte sich offenbar große Mühe gegeben. Statt dem typisch kargen italienischen Frühstück fand Dorothea frisch gepressten Orangensaft, eine Auswahl an italienischer Salami, weichgekochte Eier, eine Käseplatte, Baguette und Parmaschinken vor, der liebevoll auf Honigmelonen drapiert war. Ganz nach ihrem Geschmack.
»Guten Morgen, Dorothea. Möchtest du einen Kaffee?«, fragte Fabrizio sie.
Allerdings, und je stärker, desto besser.
»Gerne.«
»Für mich bitte auch einen«, bat Elli.
Sie gesellte sich zu ihr und krächzte ein eher seichtes »Morgen«, bevor sie am anderen Ende des Tisches Platz nahm. Dorothea war gespannt, ob ihre Schwester das abrupte Ende ihres gestrigen Gesprächs noch einmal aufgreifen würde. Mitnichten!
»Mm, das sieht aber lecker aus.« Elli griff sofort nach einem Teller, und als wären ihre Hände riesige Baggerschaufeln, schob sie Unmengen auf ihren Teller. Es fehlte nur noch, dass Elli sie fragte, ob sie gut geschlafen hatte. Kaum zu Ende gedacht, kam die Frage tatsächlich wie aus der Pistole geschossen, noch dazu mit vollem Mund.
»Ich habe gar nicht geschlafen«, desillusionierte Dorothea ihre Schwester.
Ellis aufgesetztes Guten-Morgen-Strahlen verblich augenblicklich. Sie nickte nur und überlegte sich jetzt vermutlich, warum oder vielmehr warum nicht.
»Es war Vollmond«, plapperte sie in einer Kaupause vor sich hin.
Smalltalk am Morgen. Gab es Schlimmeres?
Vollmond! Genau! Deshalb hatte sich ihre kleine Schwester auch in ein Werwölfchen verwandelt oder vielmehr in eine kleine Cinderella, die auf ihre alten Tage zu der Einsicht gelangte, dass es außer Josef
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